Mittwoch, 9. März 2022

 

Um langfristig zum Frieden zu kommen, müssen möglichst viele Menschen in Frieden kommen, und alle müssen abrüsten

Eine starke UNO muss für die weltweite Abrüstung sorgen

Theodor Dierk Petzold[1]

Der Putin-Krieg gegen die Ukraine wirft eine alte Frage wieder auf und drängt zu einer neuen Lösung: Gilt das Abschreckungsprinzip (im Abwendungsmodus[2]) „Krieg dem (imperialistischen) Krieg!“ oder gilt die pazifistische Ansicht, dass alle abrüsten müssen, um zum Frieden zu kommen? Und dass die Mutigen direkt mit der Abrüstung beginnen? Hier wollen wir sowohl das Potential, die Anliegen und Denkweisen der Menschen in Betracht ziehen als auch die politischen Realitäten.

Eins lehrt uns wieder einmal dieser aktuelle Krieg in Europa: Auch ehemalige bzw. jetzt bestehende Demokratien sind keine langfristige Garantie für Frieden. In genügend Beispielen haben wir erfahren, dass Demokratien nicht den Frieden sichern (s. USA) und außerdem schnell zu autoritär geführten Staaten werden können (Türkei. Russland, Ungarn), die Kriege führen, wenn sie die Möglichkeit dazu sehen. Dazu zählen auch die Beispiele wie der Irak-Krieg der USA, der Sturz der Regierung in Libyen, der Afghanistan-Krieg u.a.m. Es ist weder ein neues Phänomen von Seiten Russlands noch von Putin. Es ist internationale Praxis: Die jeweils Stärkeren (oder die sich dafür halten) führen Kriege, wenn sie glauben, davon profitieren zu können. Das scheint mehr eine Folge der Machtsysteme und Denkmuster zu sein als ein Ausdruck persönlicher Charaktere.

In Putins Krieg in der Ukraine kämpfen noch zum Teil Menschen gegen Menschen. Selenskyj hat das ziemlich zu Beginn treffend gesagt: „Wir werden Euch unsere Gesichter zeigen und kämpfen.“ Anscheinend hat er darauf gesetzt, dass das russische Brudervolk aufhören wird zu schießen, wenn es den Brüdern ins Gesicht schaut. Wie werden solche Kriege erst laufen, wenn sie fast nur von Drohnen und Kampfrobotern geführt werden, die aus einem Atombunker heraus per Mausklick gestartet werden, wie es heute Millionen Kinder und Erwachsene täglich zuhause in Computerspielen üben? Sie sehen keinen Menschen mehr leiden. Ein junger amerikanischer Bomberpilot berichtete aus einem Einsatz im Irak 2003, dass es „wie ein spannendes Baseball-Spiel gewesen sei“.

Wenn dann plötzlich ein Präsident einer entsprechend gerüsteten Nation meint, dass sein Volk in der Umweltkrise nur überleben kann, wenn es drei Milliarden Menschen weniger auf der Erde gibt, kann er diese per Mausklick auslöschen – im besten Willen zur Rettung seines Volkes und sogar der Biosphäre. Dabei kann er sogar noch für die vielen Seelen der getöteten Menschen und deren Angehörige beten und beim lieben Gott um Verzeihung für seine Notlösung bitten. Ein Krieg mit Viren (wie er heute schon möglich ist) könnte da besonders geeignet sein, weil er weniger Kollateralschäden anrichtet als z.B. Atomwaffen und nicht die Erde unbewohnbar macht. Nationalisten könnten meinen, dass sie die eigene Bevölkerung vorweg impfen würden.

Wenn wir Frieden wollen, müssen wir abrüsten.

Ein politischer Friedensprozess ist global denkbar, ganz analog wie es in vielen Staaten ein Gewaltmonopol für den Staat und ein Waffenverbot für Einzelne gibt. So können wir heute ein Gewaltmonopol für die UNO fordern und dieses etablieren. Mit einer internationalen Gerichtsbarkeit und Exekutive. Es ist sicher kein Zufall, dass die drei Großmächte USA, Russland und China bislang den internationalen Gerichtshof (noch?) nicht anerkannt haben. Wollen sie sich über andere Länder stellen und die Möglichkeit zum Unrecht des Stärkeren zur Ausbeutung und Unterdrückung von Schwächeren in Peto haben? – Wie Putin meinte, sie über die Ukraine zu haben?

Exkurs: Macht-Opfer-Muster

Kulturhistorisch gesehen ist heute ein analoger Prozess in der globalen Lebensdimension erforderlich oder schon im Gange, wie er in der Kultivierung von Gesellschaften in den letzten ca. 12.000 Jahren stattgefunden hat, um einen möglichst friedlichen und aufbauend kooperativen Umgang mit den Verletzungen durch physisch Stärkere zu schaffen. Mit der alttestamentlichen Anweisung zur Gerechtigkeit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollte die Rache und Vergeltung begrenzt werden. Um die Eskalation von Racheakten im dichter werdenden Zusammenleben auch von mehreren Stämmen zu unterbinden, wurde die Gerichtsbarkeit eingeführt und mit Macht ausgestattet. Im internationalen Miteinander verüben die physisch Mächtigeren heute immer noch Vergeltungsschläge, die weit über die erlittene Verletzung hinausgehen (man denke z.B. an die USA und die Taliban, Israel und Palästina, Türkei und Kurden...).

Der Mensch neigte und neigt offensichtlich immer noch zu sehr zu einem verletzenden Re- und Interaktionsmuster, wenn er die Macht dazu hat: zum Macht-Opfer-Dreiecksmuster.

Das Macht-Opfer-Dreieck ist ein Interaktions- und Denkmuster zwischen den Rollen von Opfer, Täter und Retter/Richter[3]. Dabei erlebt das Opfer den Täter als mächtig und schaltet in den motivationalen Abwendungsmodus. Um Verletzungen durch den Täter abzuwehren, muss der Mensch Macht entfalten, was oft durch Parteinahme von anderen (zur Vergeltung, Strafe und Abschreckung) geschieht (auch durch Verwandtschaft: Blutrache). In Kulturen sind deshalb die Rollen von Richterinnen[4]  und Retterinnen mit Macht ausgestattet, um wechselseitige Racheakte und Selbstjustiz zu unterbinden. Die Rollen Retter und Richter dienen eigentlich der Fürsorge bzw. Vorbeugung von zwischenmenschlichen Verletzungen. Allerdings werden auch dabei immer wieder Menschen verletzt und somit zu neuen Opfern gemacht. Wenn sich diese Rollen und das Muster im Denken in einer eigenen Macht-Opfer-Dreieckslogik verselbständigen, entfalten sich Macht- und Rollenspiele, in denen die Rollen fliegend wechseln können (vgl. auch Dramadreieck von S. Karpman 1965). Begriffe wie Schuld, Ursache, böse, Strafe, Vergeltung, Retten und ihre Verknüpfungen in Vorwürfen, Anschuldigungen und Urteilen entspringen diesem Muster und triggern es. Das Macht-Opfer-Dreieck kann dann als Schattenmuster eine Eigendynamik entfalten, wo Richter und Retter mehr Schaden als Nutzen anrichten können.

Die UNO erneuern und stärken

In der Bildung der Kulturen wurde das Prinzip des Stärkeren und der folgenden Rache ersetzt durch ein Recht, das für alle gelten soll und von Vertreterinnen der Gesellschaft ausgeführt wird „im Namen des Volkes“. Dies galt und gilt dem Schutz von Opfern und der kulturellen Kooperation, zu der alle ihren Beitrag liefern.

International gibt es ein ähnliches Bemühen wie in den Kulturen auch – ganz besonders nach dem 2. Weltkrieg durch die UNO, das Völkerrecht und den internationalen Gerichtshof. Und gerade jetzt im Verlaufe von Putins Krieg kommt von dem Opfer, der Ukraine, die Anrufung der UNO und eine Verurteilung des Angriffes mit beeindruckender Mehrheit. Genau in diesem Sinne muss die Völkergemeinschaft aktiviert und gestärkt werden – natürlich möglichst unabhängig von den Großmächten. Als demokratisches Machtinstrument der vielen Nationen.

Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sind jetzt viele Menschen für diese Fragen sensibilisiert. Die Staaten, die sich weigern, die internationale Gerichtsbarkeit anzuerkennen, dürfen nicht in den Sicherheitsrat kommen. Diese Regelungen müssen zu Friedenszeiten erfolgen, wenn ein anderes Denken als das im Macht-Opfer-Muster leichter möglich ist.

Wie können wir mehr Frieden erreichen?

Einem Gewalttäter auch die „andere Wange“ hinzuhalten, kann in manchen Situationen hilfreich sein. Aber bei einem Amokläufer mit einem Maschinengewehr oder digital gesteuerten Tötungsmaschinen hilft das nicht. Diese müssen gestoppt werden – möglichst bevor sie loslegen. Die bedrohten Menschen müssen geschützt werden. Ganz aktuell ist deshalb die starke internationale Hilfe für die Ukraine richtig. Aber ist es nicht naiv, deshalb den Westen als Friedensbringer darzustellen und als Konsequenz im Macht-Opfer-Muster zu glauben, dass eine vermehrte Aufrüstung des Westens zu mehr Frieden führt? Allein die USA geben jährlich 12 mal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland und 3 mal so viel wie Russland und China zusammen. Womöglich steckt eine ähnlich brutale Hoffnung hinter dieser Aufrüstung wie sie Putin hatte: Eine starke militärische Überlegenheit wird den Gegner so abschrecken, dass er alle (wirtschaftlichen u.a.) Bedingungen erfüllt? Das ist ein Denken noch im barbarischen verletzenden Prinzip des Stärkeren, das wir glaubten in den Kulturen durch das Einführen einer Rechtsprechung gelöst zu haben. Es ist die simple Logik, die dem militärischen Denken und dem der Geheimdienste zugrunde liegt - das illusorische Narrativ, dass Waffen auf Dauer Sicherheit bringen. Heute braucht es ein anderes Denken. Ein Denken in Kooperationen zum guten Leben in Frieden unter Anerkennung und Wahrung der Menschenrechte. Der Widerstand in der Ukraine und das Nachdenken weltweit lassen hoffen.

Es braucht allerdings bis zu dem idealen Zustand ohne vernichtende Waffen weltweit eine von der UNO kontrollierte Abrüstung. Die Staaten, die bis jetzt schon die internationale Gerichtsbarkeit anerkennen, sollen und können sich zusammenschließen zur Koalition der Friedenswilligen zur globalen Abrüstung. Ihre militärische Rüstung können sie zunächst der UNO zur Verfügung stellen, damit diese eine Exekutive aufbauen kann, die auch der Willkür der Großmächte Einhalt bieten kann. Wer in den UN-Sicherheitstrat will, muss den internationalen Gerichtshof anerkennen und das Völkerrecht befolgen. Wenn eine Nation dies verletzt, wird sie aus dem Rat ausgeschlossen, wie es von Kiew jetzt sehr gut gefordert wird. Das betrifft allerdings außer Russland auf jeden Fall auch noch die USA in Bezug auf den Irak-Krieg u.a. Die UNO muss für diese Friedensaufgabe gestärkt und wohl neu organisiert werden. Das könnten und sollten Grundlagen einer werteorientierten und friedvollen Außenpolitik sein.

Die Rüstungspläne – auch hier in der BRD – müssen breit diskutiert werden. Ihre aktuelle Abschreckungswirkung scheint gegen Russland motiviert und gerichtet. Da kann sie nur symbolisch sein, weil der Krieg schon stattfindet. Dabei habe ich Scholz so verstanden, dass er diese Aufrüstung zum Ziele einer militärischen Stärkung Europas plant. Das ist nicht nur gegen Russland gerichtet, sondern langfristig mindestens ebenso gegen die USA und China, zum Unabhängig-werden von der Welthegemoniemacht. Europa würde dann auch zu einem militärischen global Player werden.

Vollständige Abrüstung aller Staaten!

Strategisch dürfte ein Aufrüsten nur unter der Bedingung stattfinden, dass alle Nationen unter der Kontrolle der UNO abrüsten. Das bedeutet, dass kommende Militärausgaben den UNO untergeordnet werden müssen: einzig als Mittel zum Zwecke der weltweiten Abrüstung. Wenn das nicht intendiert und vertraglich geregelt ist, treibt es mehr den Rüstungswettlauf an, der mit großer Wahrscheinlichkeit in einen oder mehrere große Kriege führt. Wenn man die ökonomische Profit-Triebkraft hinter der Rüstungsindustrie sieht, dürfte man eher skeptisch sein, dass taktische Aufrüstung wirklich hilfreich für eine strategische Abrüstung sein kann.

Bei der modernen Rüstung, wo die kriegführende Partei per Mausklick Bomben schmeißen lässt und die leidenden Menschen nicht mehr sieht (wie es in der Ukraine ja immerhin noch häufig der Fall ist und den Russen zum Verhängnis werden kann), wird es ein Wettlauf um die bessere Technik, das perfektere Töten gehen. Dann bräuchte Putin keinen Sicherheitsstab oder Generalsstab mehr, dann könnte er alleine aus einem Bunker heraus die ganze Welt zerstören. Die Waffensysteme dazu gibt es im Prinzip schon.

So kann es perspektivisch nur eine klare Devise geben: vollständige Abrüstung aller Staaten. Nur die UNO darf Militär haben, das dann im Zuge der allgemeinen Abrüstung auch abgerüstet wird, bis hin zu einer Exekutive wie Polizei, die – metaphorisch – mit Schlagstöcken und Pfefferspray ausgerüstet ist. Womöglich noch wichtiger sind dann Armeen von Streitschlichterinnen und Friedensstifterinnen, zu denen jeder Mensch auch in seinem Alltag gehören kann. Alle, die für ein gutes Leben möglichst aller Menschen in der Biosphäre kooperieren, geben dem Frieden einen großen Sinn.

Frieden stiften in allen Lebensdimensionen

Auf dem Weg zu dieser großen weltpolitischen Aufgabe braucht es sehr viele Menschen, die innerlich klar friedlich ausgerichtet sind und nicht mehr unreflektiert in die Macht-Opfer-Logik verfallen. Jede und jeder Einzelne kann viel für die globale Kooperation in Frieden tun. Es braucht ein möglichst sehendes, mit der Realität abgeglichenes, Vertrauen in das Gute im Menschen. Wem willst und kannst du in der Zukunft wirklich vertrauen, wenn es um Frieden geht? Auch braucht es Selbstvertrauen und mutige Aktivitäten in allen Lebensdimensionen:

Sich selbst immer wieder friedlich einzustimmen in große Verbundenheit mit allen Menschen und der Biosphäre. Seine Bedürfnisse, Anliegen und Gedanken und friedliche Anliegen und Meinungen zu kommunizieren; dabei soll das Macht-Opfer-Muster von Opfer-schuldiger Täter-Richter/Retter reflektiert werden und eine kleine Warnlampe aufleuchten lassen, um wieder in friedenstiftende Gedanken (im Kohärenzmodus s. Fußnote 2) zu finden. Immer wieder ist es gut, sich und anderen die Frage nach einem Sinn zu stellen.

In der Bildung und dem Gemeinschaftsleben friedliche Einstellungen kultivieren, Konflikte nicht verdrängen, sondern gemeinsam lösen – gemeinsam aus der Vergangenheit lernen.

Auf aggressive Impulse anderer möglichst gelassen und mit Selbstvertrauen und Frieden stiftend reagieren. Gemeinsame Aktionen für andauernden Frieden durchführen. Freundlich auf alle Menschen zugehen: das bedeutet das Menschliche in ihnen ansprechen, das es (meist) jenseits ihrer kulturellen Machtrolle gibt – auf ihre Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen eingehen und nach Sinn fragen. Derartige Einstellungen und Verhaltensweisen können geübt werden – am besten in allen Schulen als fester Bestandteil einer Sozialisation zum aktiven Frieden.

In der Politik bedeutet es, die globale Einheit der Menschheit in und mit der Biosphäre im Blick zu haben, die Verbundenheit aller und den Wunsch nach aufbauender Kooperation aller Menschen in und mit der Natur zum Wohle Aller. Das können wir u.a. durch Meditation, Gebete und Kunst fördern. Politisch heißt es, die Forderung nach einer starken UNO, die die weltweite Abrüstung kontrolliert, zu vertreten. Dazu muss die UNO noch neu und demokratischer umgebaut werden. Der Anfang dazu ist schon da.



[1] Dieser Aufsatz wurde in einem kokreativen Prozess mit Anna Klüpfel und Sandra Kunz erstellt.

[2] Der Abwendungsmodus ist neben dem Annäherungs- und Kohärenzmodus eine von drei motivationalen Einstellungen, Sie wird eingeschaltet, wenn Menschen eine Bedrohung wahrnehmen, und führt zu Reaktionen wie kämpfen, fliehen oder totstellen, zum Stressmodus.

[3] S.a. www.globale-ethik-blog.net und Petzold TD (2021): „Drei entscheidende Fragen – Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung“ Kap.4.

[4] Um den Geschlechtern in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne den Schreib- und Lesefluss zu sehr zu verkomplizieren, verwende ich im Weiteren im Singular entsprechend der bislang üblichen Schreibweise die männliche Form, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Frau, und im Plural immer die weibliche Form, es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Männer.

Sonntag, 21. November 2021

 

Hilft Kriegsrhetorik oder Üben von Kooperation?

Theodor Dierk Petzold

Die Debatte um Zwangsmaßnahmen geht zurzeit aus meiner Sicht in eine kontraproduktive Richtung. Für die gesunde Entwicklung trotz der oder mit den Viren ist weniger der Zwangsmaßnahmenkatalog einer Regierung entscheidend als vielmehr das Verhalten der Bürgerinnen[1]. Wie viel Abstand halten sie? Wie lange und wie geschützt halten sie sich mit anderen in geschlossenen Räumen auf? Wie abwehrbereit ist ihr Immunsystem? Tragen sie dort, wo Menschen sich leicht zu nahe kommen bzw. viele Menschen sind, eine Maske? Wie viele sind genesen? Wie viele lassen sich impfen? Wie viele lassen sich testen?

Ausschlaggebend für die Ansteckungshäufigkeit und -gefahr sind nicht allein die Eigenschaften des Virus. Man kann die Unterschiede in den einzelnen Ländern eindrucksvoll sehen: im Norden (schon innerhalb Deutschlands), wo die Bevölkerungsdichte geringer ist (Skandinavien) und die Menschen insgesamt einen distanzierteren Umgang pflegen, finden sich in der Regel immer geringere Inzidenzen. Ich lebe im Süden von Norddeutschland. Etwas Abstand halten – besonders auch innerlich – ist hier ziemlich normal. Wir hatten hier im Laufe der Pandemie kein dramatisches Infektionsgeschehen.

Wenn wir diese und andere Gegebenheiten – auch solche außerhalb viren-politischer Narrative – zur Kenntnis nehmen, kommt die Frage auf: Welche Rolle spielen in diesem Szenario die Zwangsmaßnahmen der Regierung? Wie reagieren die Menschen auf die Meldung einer Infektionsgefahr und auf die Maßnahmen? Welche Rolle spielt das autonome kooperative Verhalten der Bürgerinnen?

Menschen haben eine Kompetenz und Kooperationsfähigkeit im Umgang mit Viren

Als die Ausbreitung und Gefährlichkeit des Virus auch in Deutschland bekannt wurde – Anfang März 2020, als die Bilder von Bergamo und die steigenden Zahlen von Erkrankten in einigen Orten in Deutschland durch die Medien gingen – begannen viele Menschen in Deutschland, Abstand zu halten und manche sogar Masken zu tragen. Dies war drei Tage bevor die Maßnahmen der Regierung galten. Immerhin waren sie gerade angekündigt. So verließ die Kurve der Inzidenz und des R-Wertes schon vor dem ersten Tag der Gültigkeit der Maßnahmen ihren Anstieg und begann zu fallen. Hier war die Kooperationsbereitschaft und Kompetenz der Bürgerinnen in Bezug auf den Umgang mit der Infektionsgefahr deutlich zu erkennen.

Wenn jeder Infizierte weniger als einen anderen Menschen ansteckt, gibt es tendenziell immer weniger Infizierte und irgendwann keinen mehr, deshalb sollte der R-Wert unter 1 gehalten werden. Da der R-Wert lokal sehr schwanken kann und wir nicht immer alle Infizierten bemerken, ist der reale Umgang mit der Ansteckung, der sich im R-Wert wiederfindet, nicht ganz so einfach, wie es rein rechnerisch erscheint. Aber das Prinzip wird an der Rechnung deutlich. Im Grunde entspricht genau das unserem ganz natürlichen Verhalten, dass wir nämlich Abstand halten, wenn jemand hustet, niest oder schnupft und uns innerlich dicht machen. Und Menschen, die infektiös erkrankt sind, ziehen sich zurück. Mit diesem „sozialen Immun-Verhalten-System“ tragen wir instinktiv viel dazu bei, dass die Infektionsrate möglichst niedriger als eins gehalten wird. Bei vielen Menschen wurde dieses natürliche soziale Immun-Verhalten durch die Meldungen über das Corona-Virus angeregt und bekam durch die Maßnahmen zusätzlich eine mentale Begründung und Verstärkung. Das Volk hat im Frühjahr 2020 angesichts der Gefahr durch Covid-19 zu Beginn gut und erfolgreich kooperiert – einschließlich der Regierung. Die Zustimmungswerte zur Corona-Politik und zur Zufriedenheit waren über 70%. In einer Gefahrensituation steht in der Regel ein Großteil der Bevölkerung hinter der Regierung – in diesem Frühjahr 2020 erfolgreich.

Krieg und Top-down-Kooperation

Manch ein Diktator oder Autokrat hat diese allgemeine Erkenntnis genutzt und einen äußeren Feind heraufbeschworen und/oder sogar einen Krieg begonnen, um seine Herrschaft zu verlängern.

Ich möchte nicht unterstellen, dass dies bei einigen Politikerinnen eine bewusste Taktik für den „Kampf gegen das Virus“ war. Aber ähnlich kriegerische Rhetoriken und psychologische Muster konnte man bei vielen beobachten.

Der Umgangston bekam militärische Züge, wobei es um strikte Ausführung von Zwangsmaßnahmen ging – oft jenseits aller Vernunft. So wurde z.B. ein Fensterputzer mit einem Bußgeld bestraft, weil er morgens um 6 Uhr ganz allein auf der Straße beim Fensterputzen keine Maske getragen hat. Auf diese Weise kann man sich die Kooperation vieler mitdenkender und kooperationsbereiter Menschen verderben.

An dieser Stelle sei wieder einmal an die vier Kriterien und Regeln der menschlichen Kooperation erinnert, die Michael Tomasello und sein Team[2] am Max-Planck-Institut für anthropologische Entwicklungspsychologie in Leipzig in der Grundlagenforschung zur Kooperation schon bei kleinen Kindern ab 9 Monaten beobachtet haben: 1. Aufeinander eingehen, 2. Ein gemeinsames Ziel verfolgen, 3. Die Rollen klar haben und 4. Dem anderen helfen, wenn dieser seine Rolle nicht gut schaffen kann (Tomasello und Hamann 2012).

Wenn Kooperationspartnerinnen gegen diese anscheinend angeborenen Regeln verstoßen, riskieren sie, dass die freiwillige, partnerschaftliche Kooperation aufhört. Dann geht nur noch die einseitige zwangsweise Top-down-Kooperation, wie z.B. beim Militär. Diese ist sehr stressig und kann deshalb nur kurzfristig funktionieren und nicht kokreativ zu neuen Lösungen führen[3].

In der Politik und auch bei den gefragten Wissenschaftlerinnen wurden – soweit es nach außen hörbar war – nur Maßnahmen der Regierung zum Besiegen des Virus aufgrund statistischer Berechnungen diskutiert, aber nicht die Kooperation mit kompetenten Bürgerinnen. Angstmacherei wurde sogar explizit als Mittel eingesetzt, um Maßnahmen durchzusetzen und die Bevölkerung zum Impfen zu bewegen. Angst machen funktioniert gut zum schnellen Motivieren. Der sog. Embedded Journalism[4] hat dafür gesorgt, dass Medien diese Rhetorik weitgehend übernommen oder sogar noch verstärkt haben. Zum einen mögen sie sich dabei pädagogisch verantwortlich für ein dem Infektionsgeschehen angemessenes Verhalten der Bevölkerung gefühlt haben. Zum anderen sind sie dabei Marktgesetzen gefolgt, die besagen, dass Schreckensmeldungen den Umsatz steigern.

Gelingende Kooperation baut auf Vertrauen

In die grundlegende Kooperationsbereitschaft und Übernahme von Eigenverantwortung der Bürgerinnen gab es anscheinend kaum oder kein Vertrauen. Vertrauen ist allerdings die Grundlage für Kooperation. Wenn die Regierung, Virologinnen und andere Verantwortliche kein Vertrauen in die Menschen haben und nicht auf diese eingehen, sondern diese nur noch als statistische Größen in ihren epidemiologischen Zahlenspielen vorkommen, schwindet reaktiv die Kooperationsbereitschaft und auch das Vertrauen der Menschen in die verantwortlich Mächtigen. Dies ist ein ganz normaler, sowohl individual- als auch massen-psycho-logischer Vorgang im Rahmen menschlicher Kooperation. Durch eine rein statistische Betrachtung werden die kooperativen Menschen nicht berücksichtigt, sondern missachtet und ausgeschlossen. Wenn diese Statistiken dann die Grundlage für Zwangsmaßnahmen bilden, ist es nur verständlich und berechtigt, wenn Menschen sich in ihrem Anspruch und Recht auf Selbstbestimmung zeigen – auch und gerade im Hinblick auf Kooperation.

Die Frage nach der Kooperation allerdings wird für die weitere gesellschaftliche Entwicklung und den Umgang mit noch folgenden Krisen möglicherweise von großer Bedeutung sein. Soll die Kooperation zur Bewältigung von Krisen in Zukunft primär durch Zwang hergestellt werden? Kann sie dann überhaupt nachhaltig gelingen? Für eine nachhaltige, gesunde Entwicklung von Individuen und Gesellschaften und der Menschheit ist wahrscheinlich eine gelingende partnerschaftliche Kooperation erforderlich, die die o.g. Kriterien menschlicher Kooperation erfüllt und die Autonomie der Menschen achtet[5].

Massen-neuropsychologische Kriegsführung

Im Krieg erscheint es wichtig, alle auf den Kampf gegen den ausgemachten Feind einzuschwören. Abweichler werden als Saboteure oder Kollaborateure empfunden und entsprechend behandelt. Im Feldzug gegen Covid-19 wurden sie von höchster Stelle als „Covidioten“, „unsolidarisch“, „Verschwörungstheoretiker“ und mit anderen moralisch diffamierenden Kampfbegriffen an den Pranger gestellt, ausgegrenzt und teilweise noch anders bestraft. Die Kollateralschäden des Krieges finden hingegen kaum Beachtung – geschweige denn Verurteilung[6]. Für z.B. die zusätzlichen Hungertoten und anderen auch hier bei uns Leidenden gibt es kaum Solidarität.

Neuropsychologisch wird durch mediale Meldungen über feindliche Bedrohungen unser motivationales Abwendungs-/Vermeidungssystem (Stresssystem) eingeschaltet, das für Sicherheit sorgen soll[7]. Dieser Abwendungsmodus stellt unseren Organismus auf Kampf oder Flucht oder Starre ein. Normalerweise kommt es zu einer Engstellung der Aufmerksamkeit auf die Bedrohung. In dieser Angina mentalis kreisen die Gedanken immer wieder um die Gefahr. Ein Blick in andere Richtungen wird kaum zugelassen, aus Angst, dass die Gefahr dann zuschlagen könnte. So hat sich seit März 2020 fast alles um Corona gedreht – mit kurzen Unterbrechungen für andere Krisen (insbesondere die Klimakrise), die dann freilich möglichst noch gefährlicher sein mussten. Wenn Kampf oder Flucht nicht wirklich möglich ist, kann es auch zu einem Engegefühl im Brustkorb kommen.

Manche haben versucht, sich im Vertrauen ins Leben und die eigene wie soziale Selbstheilungsfähigkeit im Sinne einer Psychohygiene von den medialen Gedankenkreisen um Corona fernzuhalten – dabei allerdings durchaus im Bewusstsein einer realen Gefahr durch das Virus. Dabei wurden und werden sie jetzt wieder durch eingreifende Zwangsmaßnahmen auf eine drohende Gefahr eindringlichst aufmerksam gemacht. So wird – absichtlich oder unabsichtlich – dafür gesorgt, dass möglichst alle Bürgerinnen in den stressenden Abwendungsmodus mit Angst kommen. Und dies rührt nicht aus einer Konfrontation mit einer direkt erfahrenen Bedrohung, sondern aus einer indirekt über Medien vermittelten Information, die man glauben soll. Direkt persönlich erfahrbar waren hingegen für jeden die Zwangsmaßnahmen. So wundert es nicht, dass sich bei vielen die Abwehr gegen die Maßnahmen und die Nachrichten gerichtet hat. Bei anderen ist der Abwendungsmodus schlicht erschöpft nach derartig langer Aktivität. Das führt dann leicht zu Depression, Angst- und Anpassungsstörungen und/oder riskantem Verhalten, hier besonders bei Jugendlichen[8].

Covid besiegen? Nimmt der Krieg kein Ende?

Die Zwangsmaßnahmen bekommen dann eine paradoxe Wirkung. Menschen nehmen diese nicht mehr ernst und kommen in einen Widerstand gegen sie. Das besonders, wenn die Narrative, die Grundlage für eingreifende Maßnahmen wie z.B. auch „Normalität durch Impfung“ waren, sich als falsch oder inkonsistent erwiesen haben. So wetteifern zurzeit die Droh-Narrative von Politikerinnen und Virologinnen (wie z.B. von Dr. Drosten) auch gegeneinander um die manipulativ „richtige“ Art und Weise des Drohszenarios. Wenn immer versprochen wurde, dass die Impfung uns zu über 90% vor Corona schützt, und dann bei einer Durchimpfung der Erwachsenen plus Genesene von über 90% die Infektionszahlen viel höher gehen als zu Zeiten, wo es noch keine Geimpften gab – da bleibt bei allen differenzierteren Erklärungen nicht mehr viel, was man glauben möchte. Und viele reagieren nach dem altbekannten Prinzip: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.

Die Erschöpfung des Stress-/Abwendungssystems, mangelndes Eingehen auf die Ziele der Menschen, gebrochene maßgebliche Narrative u.a. haben bei vielen zur Kündigung der Kriegs-Kooperation im Abwendungsmodus geführt. Ein langer Krieg zermürbt und schwächt alle – auch wenn er nur im Kopf stattfindet. Es besteht zudem die Gefahr, dass Menschen zu einem Krieg im Kopf dann ihre Realität schaffen, wie es vereinzelt schon stattfindet wie bei Demonstrationen und im Kampf um Versammlungen und ums Maskentragen. Aus dem gedachten Krieg gegen Viren wird ein Kampf gegen Menschen und die Natur (man denke außer an die hierzulande Geschädigten auch an die vermehrten Hungerleidenden und Toten in armen Ländern, die zusätzlichen Tonnen an Plastikmüll u.a.m.). Das Handeln folgt den Gedanken. Kooperationen zum Abwenden von Gefahren gelingen nur kurzfristig und sind nur kurzfristig sinnvoll.

Friedlich kooperieren zur Lösung von Krisen

Solange primär über die Zwangsmaßnahmen diskutiert wird anstatt über die Anliegen und Gesundheitsziele der Menschen und sinnvolles Verhalten in unterschiedlichen Situationen und Rollen, kann es keine gelingende Kooperation geben. Kooperation im Abwendungsmodus gelingt grundsätzlich nur kurzfristig und muss dann letztlich einem übergeordneten positiven Ziel dienen: hier der gesunden Entwicklung – dem guten Leben möglichst aller Menschen[9].

Für eine nachhaltig gelingende Kooperation braucht es eine Formulierung des Zieles der Kooperation. Wenn wir eine Entwicklung in Richtung Gesundheit wollen, brauchen wir eine anhaltende nachhaltige Kooperation. Diese gelingt nur mit positiven attraktiven Zielen.

Sicher wird es auch bei freiwilligen Kooperationen im Umgang mit Infektionsgefahren Menschen geben, die aus mangelnder Einsicht, Leichtfertigkeit oder anderen Gründen zu hohe Risiken eingehen und sich und andere gefährden. Das kann zu schmerzhaften Erfahrungen führen, sowohl zu eigenem Leid als auch zum Leid gefährdeter Mitmenschen. Dies sind dann wiederum Erfahrungen, aus denen die Betroffenen lernen können, um sich in der Folge vernünftiger zu verhalten. Die große Mehrheit aber wird sich von Beginn an vernünftig verhalten, wenn sie gut informiert sind – wie man zu Beginn der ersten Corona-Welle sehen konnte und auch jetzt wieder. Für ein gutes Leben in der Zukunft sollten die Verantwortlichen jetzt beginnen, sich um eine menschliche partnerschaftliche Kooperation zu bemühen. Einige müssen eine solche überhaupt erst (wieder) lernen – zu sehr sind sie in Kämpfen im Macht-Opfer-Beziehungsmuster mit Richtern und Rettern[10] sozialisiert – das betrifft besonders aber nicht nur Politikerinnen in ihrer politischen Karriere.

Eine gelingende menschliche Kooperation braucht zweierlei: Erstens eine offene auf Vertrauen ausgerichtete Haltung und zweitens eine Kommunikation, die ihre vier Regeln beachtet: auf den Kooperationspartner eingehen, gemeinsame Ziele benennen, die Rollen klären und darüber austauschen, wenn einer Hilfe braucht.

Wir dürfen uns jetzt die Freiheit nehmen – nach den vielen Erfahrungen im Umgang mit Covid-19, positiven wie negativen – einmal ganz neu zu schauen: Wohin wollen wir uns gesund entwickeln? Was wollen wir im Umgang mit den Viren erreichen? Individuell? In der Familie und unter Freundinnen? In der Gesellschaft? Und global?

Wenn wir das Ziel gemeinsam vor Augen haben, können wir den Weg dorthin und unsere unterschiedlichen Rollen in der Kooperation besprechen.



[1] Um den Geschlechtern in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne den Schreib- und Lesefluss zu sehr zu verkomplizieren, verwende ich im Weiteren im Singular entsprechend der bislang üblichen Schreibweise die männliche Form, es sei denn, es handelt sich explizit um eine Frau, und im Plural immer die weibliche Form, es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Männer.

[2] Tomasello M (2010), Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp.

Tomasello M, Hamann K (2012), Kooperation bei Kleinkindern. https://www.mpg.de/4658054/Kooperation_bei_Kleinkindern. (Abruf 10.02.2016)

[3] S.a. Petzold TD: https://gesunde-entwicklung.com/globale-ethik-zur-kooperation/

[4] Der Begriff wurde 2003 für die Medien geprägt, die über den Irakkrieg direkt aus einem Dabeisein / Teilnehmen berichteten. Später wurde er ausgeweitet für Medien, die in die Regierungspolitik strategisch integriert sind und dabei besondere Berichterstattungsmöglichkeiten erhalten.

[5] Vgl. a. Ottawa-Charta der WHO und Genfer Deklaration des Weltärztebundes 2018;

[6] Oxfam schätzt, dass durch die Pandemie 6.000 bis 12.000 Menschen zusätzlich pro Tag an Hunger sterben.

Im September 2020 sagte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU): "An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus.“

[7] s.a. Petzold TD (2021a) Drei entscheidende Fragen – Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

[8] S.a. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/123573/Studien-Stress-und-psychische-Probleme-haben-in-der-Pandemie-zugenommen  (abgerufen am 12.11.21)

[9] s.a. Petzold TD (2021b) Schöpferische Kommunikation – Aufbruch in eine neue Dimension des Denkens. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.

Montag, 29. Juni 2020

Reflexion über den Corona-Frühling

Der Corona-Frühling zeigt schon Folgen. Zeit für eine Besinnung und Reflexion der Erfahrungen und für einen Ausblick auf den Sommer und Herbst.
Gleich zu Beginn des Bekanntwerdens des infektiösen und für manche auch gefährlichen Virus gab es drei Gruppen von Menschen: erstens die eher ängstlich, vorsichtigen MahnerInnen und AlarmistInnen (im motivationalen Abwendungsmodus), zweitens die optimistisch Zuversichtlichen und Verharmlosenden (motivationalen Annäherungsmodus) und drittens die vertrauensvoll abwartend Beobachtenden im motivationalen Kohärenzmodus (s. Post vom 27.4.2020).
Besonders die beiden ersten Gruppen polarisierten sich scheinbar immer stärker. In Wirklichkeit allerdings entpuppten sich manche der BerufsoptimistInnen zu MahnerInnen und dann teilten diese sich in zwei konträre Lager: die einen warnten vor der tödlichen Gefahr des Virus, die anderen vor der politischen Gefahr des totalitären Kontrollsystems. Aus neuropsychologischer Sicht waren und sind beide Lager letztlich in einer Angstblase, einer Angina mentalis, gefangen. Soweit sie in einen Rechthabestreit eingestiegen sind, kommunizieren sie im Macht-Opfer-Dreiecks-Beziehungsmuster (s. Post vom 27.4.20).

Was machen Menschen im Kohärenzmodus?

Was macht die dritte Gruppe, die vertrauensvoll abwartend Beobachtenden? Sie können sowohl die Mahner als auch die Zuversichtlichen wertschätzen. Sie steigen aber nicht in den Rechthabestreit ein, denn dann würden sie ihren Kohärenzmodus verlassen und in eine abwendungsmotivierte Kommunikation geraten, die sich wechselseitig hochschaukelt und nicht mehr alle wichtigen Realitäten sehen und abwägen kann.
Sie freuen sich über den klaren Himmel und die bessere Luft durch den Shutdown – über die kurgleiche Wohltat für die Atmosphäre und Biosphäre. Die Biosphäre atmet auf und durch – und die Menschen im Kohärenzmodus atmen mit ihr Luft und Licht.
Allerdings beobachten sie auch, wie unterschiedlich die Corona-Krise erlebt wird. Für manche Menschen ist das Corona-Virus eine Bedrohung, für andere eine natürliche Sterbehilfe, für andere eine Erkältung, für viele sind die wirtschaftlichen Folgen bedrohlich, und die Kontaktsperren und anderen Auflagen sowie die Panikmache sind emotionale und politische Herausforderungen. Für alle ist es eine Übung, mit neuen, ungewissen und womöglich bedrohlichen Bedingungen und Aussichten zurechtzukommen. Für fast alle ändert sich irgendetwas Bedeutsames – eine Musterunterbrechung des Alltagslebens weltweit.
Die Menschen der dritten Gruppe haben sowohl Vertrauen in das Immunsystem der Menschen als auch in deren Vernunft, die sich womöglich erst nachhaltig zeigt. Angesichts des Nicht-Wissens über die wirkliche Gefährlichkeit der Infektion zeigen sie eine gewisse Rücksicht und Vorsicht in Bezug auf Mitmenschen.
Sie wissen, dass die Medien in ihrem Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der BürgerInnen vor allem Horrorszenarien und Gefahrenmeldungen präsentieren. Vernünftige, abwägende Ansichten kommen immer erst nach einer gewissen Zeit nach einem gesellschaftlich bedrohlichen Ereignis in die Medien (aus meiner Beobachtung frühestens etwa zwei Wochen).

Musterunterbrechungen

Weltweit und fast gleichzeitig werden die meisten Menschen im Corona-Frühling aus ihrem normalen Alltagstrott rausgerissen. Ihr normales Leben war bis dahin weitestgehend von ökonomischen Bedingungen oft mit Beschleunigung bestimmt. Die Musterunterbrechungen im Corona-Frühling bringen mehr und auch etwas anderes als eine Entschleunigung für viele – für manche allerdings auch das Gegenteil. Hier lohnt es sich genau hinzuschauen, denn in der Unterbrechung alltäglicher Verhaltensmuster liegt eine große Chance für Neuanfänge für die Zukunft, für ein kreatives Mitgestalten eines guten Lebens.
Mit Innehalten und einem Annehmen dieser gegebenen Musterunterbrechung und uns Zeit nehmen können wir Gelassenheit entfalten und unseren inneren Beobachter aktivieren (in den Kohärenzmodus kommen). Endlich mal Zeit haben, die nicht verplant ist. Plötzlich alle Termine abgesagt. Geschenkte Corona-Frühlingszeit und frische Luft, klares Sonnenlicht und kräftig leuchtende Farben in der Natur als Folge des Lockdowns. Maja Göpel spricht im Stern-Interview von einem „Zeitwohlstand“. Wozu kann uns diese Zeit dienen?
Viele haben aufgeräumt. Viele sind kreativ geworden. Sehr vielen ist immer bewusster geworden: Alle Menschen auf dieser Erde sind vom selben Virus betroffen. Die globale Verbundenheit wurde immer deutlicher auch fühlbar. Zwar oft erst im Leiden unter Virus-Infektionen und unter den wirtschaftlichen Folgen. Aber zunehmend auch in den positiven Möglichkeiten: der Wohltat für die Atmosphäre und Biosphäre, der Besinnung auf neue Werte des Mensch-Seins, eines bewussteren Umgangs mit sozialen Kontakten wie auch mit dem Sterben, der gegenseitigen Hilfe bei autonomer Entfaltung auch in nationalen Notsituationen u.a.m.

Was kommt nach dem Aufwachen im Corona-Frühling?

Alle diese Wünsche und Tendenzen gab es auch schon vor dem Corona-Frühling – aber sie hatten wohl noch ihren Winterschlaf. Mit Corona haben sie im Frühling die Erdkruste durchbrochen und sind gekeimt. Mit Hilfe der Angst vor Corona-Infektionen, vor möglichen Fehlentscheidungen und vor einem „Kollaps des Gesundheitssystems“ haben die Regierungen Möglichkeiten zur Musterunterbrechung geschaffen und aufgezeigt, die im Winter kaum denkbar waren. Neue Werte jenseits der Ökonomie fanden Raum zur Diskussion, wie z.B. die Wertschätzung besonders systemrelevanter sozialer Berufe, die Bedeutung von Autonomie im Leben und Sterben, von Freiheit und gemeinsamem Spiel für Kinder und Jugendliche und anderes mehr.
Jetzt hat der Sommer begonnen. Noch wächst die Saat und es ist zu früh, von einer Ernte zu sprechen. An der Oberfläche sichtbar sind viele – auch widerstreitende – Interessengruppen, die etwas ernten wollen – viele ökonomisch, ideologisch oder politisch.
In der Tiefe ist die Hoffnung da, dass da schon etwas an Bewusstsein im Zeitwohlstand gewachsen ist und noch weiter wächst, das sich in achtsamer Verbundenheit sowohl mit den nächsten Mitmenschen, als auch mit allen Menschen weltweit und der Biosphäre entfaltet. Ein neues Bewusstsein über Mensch-Sein in Vertrauen, Kokreativität und Weitsicht, das unser Kooperieren mit unseren PartnerInnen im Alltag sowie auch mit Regierungen weltweit in Zukunft leiten soll.
Wenn diese zarten und zahlreichen menschlichen Pflanzen sich weiter entfalten, könnten wir sagen, dass wir mit Corona und den politischen Maßnahmen daraus etwas gelernt haben, was unser Leben in Zukunft in dieser Biosphäre besser machen kann. Auch wenn es bis zur Ernte möglicherweise mehr Zeit braucht als nur bis zu diesem Herbst. Die Samen werden über Winter verstreut und im nächsten Frühjahr vermehrt aufgehen.

Montag, 27. April 2020

Vertrauen oder Angst kultivieren? Kontrolle oder Kooperation?


Abstract: Eine Reflexion neuropsychischer motivationaler Einstellungen kann uns helfen, die möglicherweise paradoxen Folgen auch von gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten zu verstehen und vorzubeugen. Aus einer Reflexion zwischenmenschlicher auch politischer Kommunikationsmuster ergeben sich Lösungsansätze zur verantwortlichen Mitgestaltung einer vertrauensbasierten kooperativen sowie lebensförderlichen Kultur. Nicht das Coronavirus verändert die Welt, sondern die Antworten aller mitgestaltenden Menschen – aller Ver-antwortlichen.

Angst – vor Corona?

Persönlich habe ich keine Angst vor den Coronaviren – ich bin ja auch erst 71 und fühle mich recht gesund. Aber ich kann verstehen, dass Menschen Angst vor einer Infektion haben – besonders nachdem Bilder von überfüllten Krankenhäusern und massenhaften Leichentransporten über die Medien in alle Haushalte gekommen sind, verknüpft mit gigantischen Zahlen von möglichen Millionen Toten, die sich keiner mehr wirklich vorstellen kann. Die Vergleiche mit großen Kriegen schüren Angst. Ich kann verstehen, dass viele Menschen Angst um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen haben. Allerdings haben die meisten älteren Menschen, die ich getroffen habe, gesagt, dass sie keine Angst davor haben – auch nicht vor dem Sterben, wenn es denn sein soll. Das erinnert mich an meinen Vater, der kurz vor seinem Tode mit 92 Jahren mir erzählte, dass er in dem angenehmen Seniorenheim, in dem er fast 20 Jahre lebte, keinen kenne, der nicht sterben wolle. Dort wäre das Coronavirus möglicherweise ein willkommener Gast gewesen, eine natürliche Sterbehilfe. Als er dann nach einer Krebsoperation irgendwann aufhörte, etwas zu trinken, kam die Krankenschwester und wollte ihm eine Infusion anlegen. Auf seinen Widerspruch (er war zum Glück noch ganz klar im Kopf), meinte sie, wenn sie das nicht täte, wäre das „unterlassene Hilfeleistung“. Sie hatte wohl Angst vor einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung.
So reagieren Menschen mit sehr unterschiedlichen Ängsten, wenn es ums Sterben geht. Bei vielen wird innerlich eine Schuldfrage getriggert. Wer ist der böse Übeltäter? Ich hatte jetzt bei Corona am meisten Angst, als „unsolidarisch“ kritisiert zu werden, wenn ich mal jemandem aus Versehen näher als zwei Meter gekommen bin – gefühlt sowas wie ein potentieller Attentäter in den Augen mancher Mitmenschen.
Wenn es für Menschen ums Überleben geht, wird ihr neuropsychisches Abwendungs-/Vermeidungssystem[1] über den Mandelkern (die Amygdala) angeschaltet – häufig mit einem Gefühl von Angst und/oder Ohnmacht. Wenn Menschen in diesem Abwendungsmodus sind, wird ihre ganze Aufmerksamkeit auf die potentielle Bedrohung gerichtet. Man will die Gefahr möglichst genau erkennen, um sie zu bannen. Alles muss ganz schnell gehen, wie z.B. bei einem Brand in der Küche, da muss sofort gelöscht werden und man kann nicht erst die Temperatur messen. Das Denken wird zweckmäßig eingeengt auf die Gefahr und ihre Abwendung und wird von dieser dominiert – es entsteht ein eingeengter Geisteszustand (lat.: Angina mentalis). So waren die Medien einige Wochen lang fast ausschließlich mit Corona befasst und das ganze Volk redete über Corona wie über ein unfassbares mörderisches Schreckgespenst, dass in tödlichen Wellen über uns kommt. Ich musste an Don Quijote und seinen Kampf gegen die Windmühlenflügel denken. Eine kollektive Angina mentalis, angstgetrieben im neuropsychischen Abwendungsmodus.
Mit diesem Abwendungsmodus ist das Stresssystem verknüpft. Das Denken bewegt sich dann in einer Angstblase, die kaum eine andere Sicht zulässt und ebenso wenig eine Reflexion dieses Zustands.
Sie können dazu mal einen psychologischen Selbstversuch machen und der Schlagzeile vieler Zeitungen nach der Ansprache unserer Bundeskanzlerin Frau Merkel vom 21.4. Folge leisten: "Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen, …“. Versuchen Sie einmal, sich nicht „in Sicherheit zu wiegen!“ – zehn Sekunden lang … dreißig Sekunden lang… Wie fühlen Sie sich? Was denken Sie, wenn Sie sich nicht sicher fühlen dürfen?

Vertrauen in die Menschen

Unter unserer Angst muss es allerdings noch etwas Grundlegendes geben, damit wir überhaupt handeln können, ja überhaupt Angst verspüren können. Dieses Grundlegende sehe ich im Urvertrauen ins Leben oder auch im Lebenswillen, der damit eng verbunden ist. Wenn da nicht etwas Grundlegenderes als Angst wäre, würde uns die Angst schnell zerfressen und am Leben hindern. Dann hätte es Don Quijote gar nicht auf sein Pferd geschafft, die PolitikerInnen nicht an die Regierung und die WissenschaftlerInnen nicht in ihren Beruf. So dürfen wir uns auch in der Angst und angesichts von Bedrohungen immer wieder auf dieses zugrundeliegende Urvertrauen ins Leben besinnen[2].
In der Not zeigen viele Menschen diese ihre gute Seite, die hilfreich und solidarisch ist. Das gibt uns weitere gute Gründe, in Menschen zu vertrauen.
So haben die Deutschen schon sehr früh bei der Ankündigung der ersten Maßnahmen, dem Großversammlungsverbot am 9.3., begonnen, sich vernünftig und kooperativ zu verhalten, wie am Verlauf der Ansteckungshäufigkeit, berechnet im R-Wert deutlich zu sehen ist. Die R-Kurve[3] änderte ihre ansteigende Richtung schon ab dem 10.3. und fällt seit dem 12.3. ab. Dieser Effekt ist noch nicht auf das Nicht-Stattfinden großer Veranstaltungen zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Ankündigung dieser Maßnahme, die den BürgerInnen die Ernsthaftigkeit der Bedrohung deutlich gemacht hat, möglicherweise auch in Kombination mit den Berichten aus Norditalien. Was ich damit sagen will: Die Zahlen zeigen weniger einen Erfolg der Maßnahmen selbst, als vielmehr das kooperative oder auch vernünftige Verhalten der überwältigenden Mehrzahl der BürgerInnen, wenn sie entsprechend informiert sind. In diesen Zahlen finden wir einen Beweis für die Vertrauenswürdigkeit der BürgerInnen. Das Vertrauen in die Menschen wäre zu diesem Zeitpunkt also schon kein geschenktes oder gar blindes Vertrauen mehr gewesen, sondern bereits statistisch begründet ein sehendes Vertrauen[4].
Ist Angst neuropsychologisch mit dem motivationalen Abwendungs-/Stresssystem gekoppelt, so ist Vertrauen mit dem motivationalen Annäherungs- und dem Kohärenzsystem[5] verknüpft. Diese Systeme sorgen dafür, dass wir uns lustvollen Annäherungszielen bzw. übergeordneten stimmigen Kohärenzzielen zuwenden und annähern.
Urvertrauen nenne ich das, was dem Leben immanent ist, das Vertrauen mit dem ein Neugeborenes den ersten Atemzug nimmt und die angebotene Milch trinkt. Durch negative Bindungserfahrungen wie auch Traumata in der frühen Kindheit kann dieses Urvertrauen geschmälert werden. Als Potential bleibt es weitgehend erhalten. Urvertrauen wäre somit eine grundlegende kooperative Einstellung des Menschen, die ich neuropsychologisch dem übergeordneten motivationalen Kohärenzsystem zuordne. Wenn wir im Kohärenzmodus sind und so mit unserem Urvertrauen verbunden, können wir gelassen sein. Wir können uns mit unserem Urvertrauen verbinden mit dem Satz: Ich atme also vertraue ich.
Dann können wir Gefahren kritisch angucken, auch unsere Angst spüren, wir müssen aber nicht gleich agieren, wenn nicht wirklich akute Lebensgefahr ist. In diesem vertrauensvollen Kohärenzmodus können wir weit denken und das ganze Leben in Betracht nehmen, nicht nur das Überleben. Wir können schauen, was uns wirklich bedeutsam ist, wie wir gut leben wollen und können – mit unseren nächsten Mitmenschen, in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Wenn wir unser Denken so weit – auch global – geöffnet haben, können wir wieder das Problem mit den Coronaviren angucken. In dieser kohärenzbewussten Reflexion können wir unser Abwendungssystem im Zaum halten, abwägen und uns nüchtern relativierend fragen, wie wir gut leben und was wir tun wollen: mit, gegen und ohne Coronaviren.
Mein Vertrauen in die Regierung und die Kooperation mit ihr beruhte unter anderem darauf, dass ich wie selbstverständlich von einer gemeinsamen Intentionalität ausgegangen war: dass die Regierenden die Ausbreitung des Virus stoppen wollen, damit wir und möglichst viele andere Menschen auch danach möglichst gut leben können. Dafür war ich wie viele andere bereit, Opfer zu bringen – auch angesichts der positiven Nebenwirkungen auf die Atmosphäre. Inzwischen sehe ich diese gemeinsame Intentionalität für eine Kooperation so nicht mehr gegeben, da die Regierenden und ihre ausgewählten ExpertInnen die verständlichen kurzfristigen Abwendungsziele zur Langzeitperspektive erklären wollen. Das erfordert ein gänzlich anderes Abwägen.
Wenn ich in eine Kooperation vertraue, gehe ich davon aus, dass der Kooperationspartner auch mir vertraut. Weiter helfen wir uns gegenseitig, wenn einer mal seine Rolle nicht mehr alleine schaffen kann[6]. Dazu gehört, dass wir unser Wissen teilen und auch, dass wir gemeinsam die Schritte, Erfahrungen und Erfolge oder auch Misserfolge und Fehler besprechen und reflektieren. Und ggf. gemeinsam korrigieren. Darauf haben ich und, soweit ich es überblicke, die große Mehrheit der BürgerInnen vier Wochen lang gehofft. Wir haben voller Vertrauen in die Regierung und die ExpertInnen ziemlich brav die verordneten Maßnahmen befolgt. Und das, obwohl wir nicht in die Diskussionen um die Maßnahmen und den Ausstieg einbezogen wurden, wie sich das für eine partnerschaftliche Kooperation gehört, nicht einmal wurde die Entscheidungsfindung wirklich transparent gemacht. Das hat bei mir und vielen anderen an dem ursprünglichen Vertrauen genagt. Dann habe ich hinterfragt, ob wir wirklich eine gemeinsame Intentionalität haben.

Macht, Opfer und ein Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten

Sie haben jetzt von zwei unterschiedlichen neuropsychischen Einstellungen gelesen: zuerst vom Gefahren-Abwendungsmodus, dem Überlebens- und Kriegsmodus, und dann vom freundlich vertrauenden und kooperativen Annäherungs- und Kohärenzmodus. Von einigen Indianerstämmen habe ich gelesen, dass sie zwei Häuptlinge hatten: einen für Friedenszeiten und einen für den Krieg. Offenbar hatten sie gemerkt, dass es zwei sehr unterschiedliche Denk- und Führungsstile braucht.
Wir haben zwar nicht die Regierung ausgewechselt (es sei denn man sieht das RKI und Herrn Drosten jetzt als Regierung), aber ihr Führungsstil hat sich deutlich geändert. Plötzlich wird zum „Krieg gegen Viren“ geblasen. Ich brauche die starken Angstbilder vom Sturm auf die Kliniken und Krematorien, die tödlichen Wellen sowie die entsprechenden Notstandsmaßnahmen hier nicht weiter auszuführen. Die sind hinreichend bekannt. Hier möchte ich die damit verknüpften Interaktions- und Kommunikationsmuster reflektieren.
Die BürgerInnen schließen sich in solchen bedrohlichen Situationen hinter ihrer Regierung zusammen und schenken ihr einen großen Vertrauensvorschuss, wie uns die ganzen Meinungsumfragen nicht nur aus den USA, sondern auch hier zeigen. Wenn man sich allein machtlos / ohnmächtig fühlt, glaubt man, dass der Kampf gegen den bösen Feind nur gemeinsam gewonnen werden kann. So spielen die beiden neuro-motivationalen Systeme im Krieg unter der Leitung des Abwendungssystems um des Überlebenswillens zusammen. Solch ein Kampf kostet wie jeder Krieg Opfer. Von jedem werden Opfer verlangt – für den guten Zweck „Leben retten“ und „Gesundheitssystem vor Kollaps bewahren“. Wer das Opfer nicht bringen will, wird zum Opfer gemacht: Geldstrafe, Gefängnis oder Psychiatrie (wie in Sachsen geplant war). Diese Opfer bzw. alle, die sich als potentielle Opfer fühlen, fällen über die Regierung ein negatives Urteil und machen ihr Vorwürfe als Übeltäter. Diese fühlt sich dann wieder als Opfer einer Hexenjagd, Schmutzkampagne oder Verschwörungstheorie. Aus diesem Gefühl als Opfer heraus und ausgestattet mit der Staatsmacht verschärft sie ihre Maßnahmen und Drohungen und löscht unerwünschte Meinungen.
So entfaltet sich ein Interaktionsmuster von: Opfer retten wollen – Übeltäter bekämpfen und damit wieder neue Opfer produzieren – die dann ihrerseits wieder die ehemaligen Retter als Übeltäter bekämpfen – usw. usw.
Dieses Interaktionsmuster erscheint als das Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten im angstgetriebenen Stressmodus. Dieses Macht-Opfer-Dreieck[7] ist ein Kommunikationsmuster im Abwendungsmodus mit einer hohen Eigendynamik, die immer neue Opfer produziert, weil keiner gerne Opfer sein möchte (freiwillig Opfer bringen, ist etwas anderes)[8]. Im Kleinen kennen wir alle dieses Muster in zwischenmenschlichen Beziehungen, und in großen Kollektiven sehen wir es wie zwischen Israel und Palästina und in allen anderen Kriegen – und jetzt auch im „Krieg gegen die Viren“. Zunächst haben die meisten freiwillig Opfer gebracht. Jetzt werden aber zunehmend die zwischenmenschlichen und familiären Beziehungen vieler Menschen sowie die ökonomischen Existenzen von KleinunternehmerInnen zu neuen Opfern, auch wenn sie nicht mit dem Virus verbandelt sind. Opfer dieses menschlichen Schattenmusters unreflektierter Kommunikation und Kooperation im Abwendungsmodus.
Es wurde neben dem Abwendungsziel des Sterbens noch ein weiteres genannt: „Ein Kollaps des Gesundheitssystems“ soll vermieden werden. Von einem solchen Ziel und Motivation gesundheitsorientierten Handelns habe ich in über 40-jähriger ärztlicher Tätigkeit noch nie etwas gehört. Das ist Aufgabe der Politiker und mit vorherschauenden Investitionen und Strukturmaßnahmen zu erreichen, aber nicht mit dem Kollaps der Gesamtwirtschaft und des gesellschaftlichen menschlichen Lebens. Dahinter steckt wohl die Angst des zuständigen Gesundheitsministers, dass seine profitorientierte Sparpolitik in Kritik gerät, durch die eine (fürsorgliche) Vorsorge für den Fall des spätestens seit 2013 erwarteten Eintretens einer Pandemie vernachlässigt wurde.
Eine weitere Gefahr der Angstmacherei besteht darin, dass wir, wenn wirklich eine gefährliche Pandemie kommt, der Regierung nicht mehr glauben, weil wir jetzt nach der Vogel- und Schweinegrippe auch noch die Corona-Pandemie eher als Windmühlenflügel des Don Quijote denn als reale überall lauernde tödliche Gefahr erlebt haben. Von dem häufig angekündigten Sturm auf die Krankenhäuser und Intensivstationen bleibt hier in Deutschland eine gähnende Leere, die zu einer so nicht gekannten Kurzarbeit führt (Stand 23.4.: 150.000 Krankenhausbetten und gut 20.000 Intensivbetten sind leer). Menschen haben heute Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Dann wird unser anfänglich hohes und relativ blindes Vertrauen in die Regierenden umschlagen in ein sehendes: Wir sehen dann die Regierung als einen Don Quijote. Mehrere ExpertInnen, die die Schweinegrippe und andere Epidemien fachlich begleitet hatten, hatten deshalb jetzt schon große Schwierigkeiten, den Horrorszenarien von VirologInnen und Regierung zu glauben, wie z.B. W. Wodarg.
Um die fatalen Dynamiken dieses Kommunikationsmusters und ihre möglichen grausamen Folgen (zerbrochene Existenzen, mehr Armut und möglicherweise Millionen Hungerstote als Folge der Verschärfung der Finanzkrise) zu erkennen und dafür Verantwortung zu übernehmen, muss man aus der Angstblase der Angina mentalis aussteigen. Dann erst kann man die unterschiedlichen Gefahren angemessen reflektieren, sich auf das Urvertrauen ins Leben besinnen und weitsichtig vorbeugend handeln. Dann können wir eine umfassende Perspektive erreichen, die die Bedrohung in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, und auch unsere menschlichen Fähigkeiten, das Leben (einschließlich der Gefahren) gut mitzugestalten, in Betracht zieht.
Hier im Zusammenhang der Corona-Krise möchte ich daran erinnern, dass die positiven Entwicklungen in Bezug auf schwere Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose nicht wesentlich durch die Medikamente und Impfungen zustande kamen, sondern schon vorher durch Veränderungen im sozialen Milieu, wie sauberes Trinkwasser, Müllentsorgung, hinreichend gute Nahrung und mehr Wohnraum[9]. Ähnliches erkennen wir, wenn wir die Coronavirus-Verbreitung und die Todesfälle heute anschauen – so z.B. in New York die der Afroamerikaner.
Ein gutes Leben unter guten Bedingungen gibt wohl den besten Schutz, die größtmögliche Sicherheit für ein gesundes langes Leben. Ein gutes Leben ist nicht so sehr das Ergebnis von Kontrolle aus Angst heraus, sondern vielmehr von Eigeninitiative, Kooperation und Unterstützung.

Verantwortung und Kultur

Eingangs habe ich die Geschichte von der helfen wollenden Pflegekraft im Seniorenheim meines Vaters erzählt, weil sie auch manche Angst von PolitikerInnen besser verständlich macht. Ihnen geht es oft nicht wirklich um die Sterbenden an der Corona-Grippe, sondern darum, Vorwürfe an ihrem (Nicht-)Handeln zu vermeiden. Wenn es wirklich um das Leben und die Gesundheit gefährdeter Menschen gehen würde, hätten sie schon vorher Maßnahmen ergriffen, damit Menschen in ärmeren Gebieten sowohl in Deutschlands Städten als auch in anderen Ländern nicht im Durchschnitt 10 Jahre früher sterben als in wohlhabenderen. Und damit nicht jedes Jahr etwa 74.000 Menschen an Alkoholkonsum unnötigerweise sterben. Und und und… Vielleicht hätten sie das Gesundheitssystem und uns auch auf die schon lange angekündigte und durchgespielte Pandemie[10] früher vorbereitet – dann hätten wir jetzt möglicherweise uns ganz einfach ohne Shutdown angemessen verhalten können.
Wenn wir mit diesem neuropsycholgischen Wissen und dieser reflektierten Erfahrung der Eigendynamik des Macht-Opfer-Dreiecks Verantwortung auch für andere übernehmen wollen, wie für PatientInnen oder die BürgerInnen eines ganzen Landes, bleiben wir im Kohärenzmodus der Gelassenheit und schauen mit grundsätzlichem und sehendem Vertrauen auf die Lebensziele, -werte und -inhalte, denen die Menschen sich annähern wollen. Und auch auf Bedrohungen, die sie abwenden wollen. Und dann besonders auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und andere Ressourcen, die wir für beides haben und brauchen.
Wir – jeder für sich und viele gemeinsam – gehen dann Fragen nach wie: Was braucht die Menschheit, uns selbst eingeschlossen, zum guten Leben? Kurzfristig – mittelfristig und langfristig? Was wünschen Sie sich für Ihr gutes Leben? Und das Ihrer Kinder und Enkel? Und was wollen und können Sie in Ihrem persönlichen Umfeld und in Deutschland dazu beitragen?
Wir haben grundsätzliches Vertrauen in die gesunde autonome Selbstregulation sowie die aufbauende gegenseitig förderliche Kooperation der Mitmenschen. Kontrolle ist nur erforderlich, wenn etwas schief läuft und kann dann durch die KooperationspartnerInnen geleistet werden. Das Ziel ist die weitestgehende Selbstverantwortung in Selbstmächtigkeit der Menschen. Von den verantwortlich Regierenden braucht es dazu eine Ermächtigung im Sinne von Empowerment und keine Entmächtigung durch Gesetze, Verbote und Kontrollen. Zum Glück gibt es dafür schon gute Praxisbeispiele wie Schweden in der Corona-Krise und andere in anderen gefährlichen Situationen[11].

Fazit

Die hier angeführten neuropsychologischen Erkenntnisse und der Blick auf Interaktionsmuster können uns helfen, unsere Motivationen und Entscheidungsprozesse zu reflektieren und zu verstehen und bewusster mitzugestalten, insbesondere durch angemessene und das Denken öffnende Fragen und vertrauensvoll kooperative auch öffentliche Kommunikationsprozesse. Durch diese Reflexion können wir negativen Folgen unserer gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten im Abwendungsmodus vorbeugen – wirklich ver-antwortlich und zum Wohl aller Menschen kooperieren[12].
Wer nicht in dieser Weise psychologisch reflektieren will oder kann und trotzdem im gesundheitlichen Tätigkeitsfeld aktiv werden möchte, kann einfach die ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns befolgen, wie sie im Oktober 2017 vom Weltärztebund in Genf verabschiedet wurden[13]:
An erster Stelle steht das Wohlbefinden der Menschen, dann kommen die Autonomie und die Würde des Menschen und an dritter Stelle steht der „höchste Respekt vor menschlichem Leben“. Ein solcher Respekt beinhaltet noch weit mehr oder auch etwas gänzlich anderes, als nur mit allen Mitteln Menschen am physischen Leben zu erhalten.
Diese Deklaration endet mit dem Gelöbnis: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“



[1] Im deutschsprachigen Raum wird dies neuro-motivationale System meist Vermeidungssystem genannt. Weil es aber nicht nur für das Vermeiden, also Fliehen einer Gefahr verantwortlich ist, sondern auch für das Bekämpfen, das aktive Abwenden, nenne ich „Abwendungssystem“: man kann sich von der Gefahr oder diese abwenden.
Vgl. Grawe K (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petzold TD (2015): Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10 (2015); Petzold TD (2013): Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana.  
[2] Petzold TD (Hrsg.)(2012): Vertrauensbuch – zur Salutogenese. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung
[3] RKI: Epidemiologisches Bulletin 17 | 2020 Online vorab: 15. April 2020
[4] Martin Buber: “Nicht ‘blindes‘ sondern sehendes, einsetzendes; nicht ‚ergebenes‘, vielmehr kühnes, ringendes Vertrauen scheint mir das höchste Gut zu sein…“
[7] Petzold TD (2017) Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus auf die Genesung - nicht auf die Erkrankung! In: Der Allgemeinarzt 11/2017 S.64-68.
https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Macht-Opfer-Dreieck.pdf (Manuskript 2020)
[8] Dieses Kommunikationsmuster ermöglicht ein psychologisches Verstehen auch paradoxer Phänomene, die im Zusammenhang mit Macht zu Bösem führen, wie R. Bregman sie beschreibt: „Im Grunde gut…“ (2020). In seinem Kern wurde es schon 1968 von dem Transaktionsanalytiker S. Karpman als Dramadreieck beschrieben.
[9] Keil U (2011): The invention of the swine-flu pandemic. Eur J Epidemiol (2011) 26:187–190 DOI 10.1007/s10654-011-9573-6
[11] R. Bregman beschreibt dazu viele Beispiele, wie z.B. die Behandlung von Kriminellen in Gefängnissen in Norwegen im Unterschied zu den USA u.v.a. In: Im Grunde gut… Rowohlt 2020.
[13] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf