Montag, 27. April 2020

Vertrauen oder Angst kultivieren? Kontrolle oder Kooperation?


Abstract: Eine Reflexion neuropsychischer motivationaler Einstellungen kann uns helfen, die möglicherweise paradoxen Folgen auch von gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten zu verstehen und vorzubeugen. Aus einer Reflexion zwischenmenschlicher auch politischer Kommunikationsmuster ergeben sich Lösungsansätze zur verantwortlichen Mitgestaltung einer vertrauensbasierten kooperativen sowie lebensförderlichen Kultur. Nicht das Coronavirus verändert die Welt, sondern die Antworten aller mitgestaltenden Menschen – aller Ver-antwortlichen.

Angst – vor Corona?

Persönlich habe ich keine Angst vor den Coronaviren – ich bin ja auch erst 71 und fühle mich recht gesund. Aber ich kann verstehen, dass Menschen Angst vor einer Infektion haben – besonders nachdem Bilder von überfüllten Krankenhäusern und massenhaften Leichentransporten über die Medien in alle Haushalte gekommen sind, verknüpft mit gigantischen Zahlen von möglichen Millionen Toten, die sich keiner mehr wirklich vorstellen kann. Die Vergleiche mit großen Kriegen schüren Angst. Ich kann verstehen, dass viele Menschen Angst um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen haben. Allerdings haben die meisten älteren Menschen, die ich getroffen habe, gesagt, dass sie keine Angst davor haben – auch nicht vor dem Sterben, wenn es denn sein soll. Das erinnert mich an meinen Vater, der kurz vor seinem Tode mit 92 Jahren mir erzählte, dass er in dem angenehmen Seniorenheim, in dem er fast 20 Jahre lebte, keinen kenne, der nicht sterben wolle. Dort wäre das Coronavirus möglicherweise ein willkommener Gast gewesen, eine natürliche Sterbehilfe. Als er dann nach einer Krebsoperation irgendwann aufhörte, etwas zu trinken, kam die Krankenschwester und wollte ihm eine Infusion anlegen. Auf seinen Widerspruch (er war zum Glück noch ganz klar im Kopf), meinte sie, wenn sie das nicht täte, wäre das „unterlassene Hilfeleistung“. Sie hatte wohl Angst vor einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung.
So reagieren Menschen mit sehr unterschiedlichen Ängsten, wenn es ums Sterben geht. Bei vielen wird innerlich eine Schuldfrage getriggert. Wer ist der böse Übeltäter? Ich hatte jetzt bei Corona am meisten Angst, als „unsolidarisch“ kritisiert zu werden, wenn ich mal jemandem aus Versehen näher als zwei Meter gekommen bin – gefühlt sowas wie ein potentieller Attentäter in den Augen mancher Mitmenschen.
Wenn es für Menschen ums Überleben geht, wird ihr neuropsychisches Abwendungs-/Vermeidungssystem[1] über den Mandelkern (die Amygdala) angeschaltet – häufig mit einem Gefühl von Angst und/oder Ohnmacht. Wenn Menschen in diesem Abwendungsmodus sind, wird ihre ganze Aufmerksamkeit auf die potentielle Bedrohung gerichtet. Man will die Gefahr möglichst genau erkennen, um sie zu bannen. Alles muss ganz schnell gehen, wie z.B. bei einem Brand in der Küche, da muss sofort gelöscht werden und man kann nicht erst die Temperatur messen. Das Denken wird zweckmäßig eingeengt auf die Gefahr und ihre Abwendung und wird von dieser dominiert – es entsteht ein eingeengter Geisteszustand (lat.: Angina mentalis). So waren die Medien einige Wochen lang fast ausschließlich mit Corona befasst und das ganze Volk redete über Corona wie über ein unfassbares mörderisches Schreckgespenst, dass in tödlichen Wellen über uns kommt. Ich musste an Don Quijote und seinen Kampf gegen die Windmühlenflügel denken. Eine kollektive Angina mentalis, angstgetrieben im neuropsychischen Abwendungsmodus.
Mit diesem Abwendungsmodus ist das Stresssystem verknüpft. Das Denken bewegt sich dann in einer Angstblase, die kaum eine andere Sicht zulässt und ebenso wenig eine Reflexion dieses Zustands.
Sie können dazu mal einen psychologischen Selbstversuch machen und der Schlagzeile vieler Zeitungen nach der Ansprache unserer Bundeskanzlerin Frau Merkel vom 21.4. Folge leisten: "Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen, …“. Versuchen Sie einmal, sich nicht „in Sicherheit zu wiegen!“ – zehn Sekunden lang … dreißig Sekunden lang… Wie fühlen Sie sich? Was denken Sie, wenn Sie sich nicht sicher fühlen dürfen?

Vertrauen in die Menschen

Unter unserer Angst muss es allerdings noch etwas Grundlegendes geben, damit wir überhaupt handeln können, ja überhaupt Angst verspüren können. Dieses Grundlegende sehe ich im Urvertrauen ins Leben oder auch im Lebenswillen, der damit eng verbunden ist. Wenn da nicht etwas Grundlegenderes als Angst wäre, würde uns die Angst schnell zerfressen und am Leben hindern. Dann hätte es Don Quijote gar nicht auf sein Pferd geschafft, die PolitikerInnen nicht an die Regierung und die WissenschaftlerInnen nicht in ihren Beruf. So dürfen wir uns auch in der Angst und angesichts von Bedrohungen immer wieder auf dieses zugrundeliegende Urvertrauen ins Leben besinnen[2].
In der Not zeigen viele Menschen diese ihre gute Seite, die hilfreich und solidarisch ist. Das gibt uns weitere gute Gründe, in Menschen zu vertrauen.
So haben die Deutschen schon sehr früh bei der Ankündigung der ersten Maßnahmen, dem Großversammlungsverbot am 9.3., begonnen, sich vernünftig und kooperativ zu verhalten, wie am Verlauf der Ansteckungshäufigkeit, berechnet im R-Wert deutlich zu sehen ist. Die R-Kurve[3] änderte ihre ansteigende Richtung schon ab dem 10.3. und fällt seit dem 12.3. ab. Dieser Effekt ist noch nicht auf das Nicht-Stattfinden großer Veranstaltungen zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Ankündigung dieser Maßnahme, die den BürgerInnen die Ernsthaftigkeit der Bedrohung deutlich gemacht hat, möglicherweise auch in Kombination mit den Berichten aus Norditalien. Was ich damit sagen will: Die Zahlen zeigen weniger einen Erfolg der Maßnahmen selbst, als vielmehr das kooperative oder auch vernünftige Verhalten der überwältigenden Mehrzahl der BürgerInnen, wenn sie entsprechend informiert sind. In diesen Zahlen finden wir einen Beweis für die Vertrauenswürdigkeit der BürgerInnen. Das Vertrauen in die Menschen wäre zu diesem Zeitpunkt also schon kein geschenktes oder gar blindes Vertrauen mehr gewesen, sondern bereits statistisch begründet ein sehendes Vertrauen[4].
Ist Angst neuropsychologisch mit dem motivationalen Abwendungs-/Stresssystem gekoppelt, so ist Vertrauen mit dem motivationalen Annäherungs- und dem Kohärenzsystem[5] verknüpft. Diese Systeme sorgen dafür, dass wir uns lustvollen Annäherungszielen bzw. übergeordneten stimmigen Kohärenzzielen zuwenden und annähern.
Urvertrauen nenne ich das, was dem Leben immanent ist, das Vertrauen mit dem ein Neugeborenes den ersten Atemzug nimmt und die angebotene Milch trinkt. Durch negative Bindungserfahrungen wie auch Traumata in der frühen Kindheit kann dieses Urvertrauen geschmälert werden. Als Potential bleibt es weitgehend erhalten. Urvertrauen wäre somit eine grundlegende kooperative Einstellung des Menschen, die ich neuropsychologisch dem übergeordneten motivationalen Kohärenzsystem zuordne. Wenn wir im Kohärenzmodus sind und so mit unserem Urvertrauen verbunden, können wir gelassen sein. Wir können uns mit unserem Urvertrauen verbinden mit dem Satz: Ich atme also vertraue ich.
Dann können wir Gefahren kritisch angucken, auch unsere Angst spüren, wir müssen aber nicht gleich agieren, wenn nicht wirklich akute Lebensgefahr ist. In diesem vertrauensvollen Kohärenzmodus können wir weit denken und das ganze Leben in Betracht nehmen, nicht nur das Überleben. Wir können schauen, was uns wirklich bedeutsam ist, wie wir gut leben wollen und können – mit unseren nächsten Mitmenschen, in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Wenn wir unser Denken so weit – auch global – geöffnet haben, können wir wieder das Problem mit den Coronaviren angucken. In dieser kohärenzbewussten Reflexion können wir unser Abwendungssystem im Zaum halten, abwägen und uns nüchtern relativierend fragen, wie wir gut leben und was wir tun wollen: mit, gegen und ohne Coronaviren.
Mein Vertrauen in die Regierung und die Kooperation mit ihr beruhte unter anderem darauf, dass ich wie selbstverständlich von einer gemeinsamen Intentionalität ausgegangen war: dass die Regierenden die Ausbreitung des Virus stoppen wollen, damit wir und möglichst viele andere Menschen auch danach möglichst gut leben können. Dafür war ich wie viele andere bereit, Opfer zu bringen – auch angesichts der positiven Nebenwirkungen auf die Atmosphäre. Inzwischen sehe ich diese gemeinsame Intentionalität für eine Kooperation so nicht mehr gegeben, da die Regierenden und ihre ausgewählten ExpertInnen die verständlichen kurzfristigen Abwendungsziele zur Langzeitperspektive erklären wollen. Das erfordert ein gänzlich anderes Abwägen.
Wenn ich in eine Kooperation vertraue, gehe ich davon aus, dass der Kooperationspartner auch mir vertraut. Weiter helfen wir uns gegenseitig, wenn einer mal seine Rolle nicht mehr alleine schaffen kann[6]. Dazu gehört, dass wir unser Wissen teilen und auch, dass wir gemeinsam die Schritte, Erfahrungen und Erfolge oder auch Misserfolge und Fehler besprechen und reflektieren. Und ggf. gemeinsam korrigieren. Darauf haben ich und, soweit ich es überblicke, die große Mehrheit der BürgerInnen vier Wochen lang gehofft. Wir haben voller Vertrauen in die Regierung und die ExpertInnen ziemlich brav die verordneten Maßnahmen befolgt. Und das, obwohl wir nicht in die Diskussionen um die Maßnahmen und den Ausstieg einbezogen wurden, wie sich das für eine partnerschaftliche Kooperation gehört, nicht einmal wurde die Entscheidungsfindung wirklich transparent gemacht. Das hat bei mir und vielen anderen an dem ursprünglichen Vertrauen genagt. Dann habe ich hinterfragt, ob wir wirklich eine gemeinsame Intentionalität haben.

Macht, Opfer und ein Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten

Sie haben jetzt von zwei unterschiedlichen neuropsychischen Einstellungen gelesen: zuerst vom Gefahren-Abwendungsmodus, dem Überlebens- und Kriegsmodus, und dann vom freundlich vertrauenden und kooperativen Annäherungs- und Kohärenzmodus. Von einigen Indianerstämmen habe ich gelesen, dass sie zwei Häuptlinge hatten: einen für Friedenszeiten und einen für den Krieg. Offenbar hatten sie gemerkt, dass es zwei sehr unterschiedliche Denk- und Führungsstile braucht.
Wir haben zwar nicht die Regierung ausgewechselt (es sei denn man sieht das RKI und Herrn Drosten jetzt als Regierung), aber ihr Führungsstil hat sich deutlich geändert. Plötzlich wird zum „Krieg gegen Viren“ geblasen. Ich brauche die starken Angstbilder vom Sturm auf die Kliniken und Krematorien, die tödlichen Wellen sowie die entsprechenden Notstandsmaßnahmen hier nicht weiter auszuführen. Die sind hinreichend bekannt. Hier möchte ich die damit verknüpften Interaktions- und Kommunikationsmuster reflektieren.
Die BürgerInnen schließen sich in solchen bedrohlichen Situationen hinter ihrer Regierung zusammen und schenken ihr einen großen Vertrauensvorschuss, wie uns die ganzen Meinungsumfragen nicht nur aus den USA, sondern auch hier zeigen. Wenn man sich allein machtlos / ohnmächtig fühlt, glaubt man, dass der Kampf gegen den bösen Feind nur gemeinsam gewonnen werden kann. So spielen die beiden neuro-motivationalen Systeme im Krieg unter der Leitung des Abwendungssystems um des Überlebenswillens zusammen. Solch ein Kampf kostet wie jeder Krieg Opfer. Von jedem werden Opfer verlangt – für den guten Zweck „Leben retten“ und „Gesundheitssystem vor Kollaps bewahren“. Wer das Opfer nicht bringen will, wird zum Opfer gemacht: Geldstrafe, Gefängnis oder Psychiatrie (wie in Sachsen geplant war). Diese Opfer bzw. alle, die sich als potentielle Opfer fühlen, fällen über die Regierung ein negatives Urteil und machen ihr Vorwürfe als Übeltäter. Diese fühlt sich dann wieder als Opfer einer Hexenjagd, Schmutzkampagne oder Verschwörungstheorie. Aus diesem Gefühl als Opfer heraus und ausgestattet mit der Staatsmacht verschärft sie ihre Maßnahmen und Drohungen und löscht unerwünschte Meinungen.
So entfaltet sich ein Interaktionsmuster von: Opfer retten wollen – Übeltäter bekämpfen und damit wieder neue Opfer produzieren – die dann ihrerseits wieder die ehemaligen Retter als Übeltäter bekämpfen – usw. usw.
Dieses Interaktionsmuster erscheint als das Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten im angstgetriebenen Stressmodus. Dieses Macht-Opfer-Dreieck[7] ist ein Kommunikationsmuster im Abwendungsmodus mit einer hohen Eigendynamik, die immer neue Opfer produziert, weil keiner gerne Opfer sein möchte (freiwillig Opfer bringen, ist etwas anderes)[8]. Im Kleinen kennen wir alle dieses Muster in zwischenmenschlichen Beziehungen, und in großen Kollektiven sehen wir es wie zwischen Israel und Palästina und in allen anderen Kriegen – und jetzt auch im „Krieg gegen die Viren“. Zunächst haben die meisten freiwillig Opfer gebracht. Jetzt werden aber zunehmend die zwischenmenschlichen und familiären Beziehungen vieler Menschen sowie die ökonomischen Existenzen von KleinunternehmerInnen zu neuen Opfern, auch wenn sie nicht mit dem Virus verbandelt sind. Opfer dieses menschlichen Schattenmusters unreflektierter Kommunikation und Kooperation im Abwendungsmodus.
Es wurde neben dem Abwendungsziel des Sterbens noch ein weiteres genannt: „Ein Kollaps des Gesundheitssystems“ soll vermieden werden. Von einem solchen Ziel und Motivation gesundheitsorientierten Handelns habe ich in über 40-jähriger ärztlicher Tätigkeit noch nie etwas gehört. Das ist Aufgabe der Politiker und mit vorherschauenden Investitionen und Strukturmaßnahmen zu erreichen, aber nicht mit dem Kollaps der Gesamtwirtschaft und des gesellschaftlichen menschlichen Lebens. Dahinter steckt wohl die Angst des zuständigen Gesundheitsministers, dass seine profitorientierte Sparpolitik in Kritik gerät, durch die eine (fürsorgliche) Vorsorge für den Fall des spätestens seit 2013 erwarteten Eintretens einer Pandemie vernachlässigt wurde.
Eine weitere Gefahr der Angstmacherei besteht darin, dass wir, wenn wirklich eine gefährliche Pandemie kommt, der Regierung nicht mehr glauben, weil wir jetzt nach der Vogel- und Schweinegrippe auch noch die Corona-Pandemie eher als Windmühlenflügel des Don Quijote denn als reale überall lauernde tödliche Gefahr erlebt haben. Von dem häufig angekündigten Sturm auf die Krankenhäuser und Intensivstationen bleibt hier in Deutschland eine gähnende Leere, die zu einer so nicht gekannten Kurzarbeit führt (Stand 23.4.: 150.000 Krankenhausbetten und gut 20.000 Intensivbetten sind leer). Menschen haben heute Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Dann wird unser anfänglich hohes und relativ blindes Vertrauen in die Regierenden umschlagen in ein sehendes: Wir sehen dann die Regierung als einen Don Quijote. Mehrere ExpertInnen, die die Schweinegrippe und andere Epidemien fachlich begleitet hatten, hatten deshalb jetzt schon große Schwierigkeiten, den Horrorszenarien von VirologInnen und Regierung zu glauben, wie z.B. W. Wodarg.
Um die fatalen Dynamiken dieses Kommunikationsmusters und ihre möglichen grausamen Folgen (zerbrochene Existenzen, mehr Armut und möglicherweise Millionen Hungerstote als Folge der Verschärfung der Finanzkrise) zu erkennen und dafür Verantwortung zu übernehmen, muss man aus der Angstblase der Angina mentalis aussteigen. Dann erst kann man die unterschiedlichen Gefahren angemessen reflektieren, sich auf das Urvertrauen ins Leben besinnen und weitsichtig vorbeugend handeln. Dann können wir eine umfassende Perspektive erreichen, die die Bedrohung in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, und auch unsere menschlichen Fähigkeiten, das Leben (einschließlich der Gefahren) gut mitzugestalten, in Betracht zieht.
Hier im Zusammenhang der Corona-Krise möchte ich daran erinnern, dass die positiven Entwicklungen in Bezug auf schwere Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose nicht wesentlich durch die Medikamente und Impfungen zustande kamen, sondern schon vorher durch Veränderungen im sozialen Milieu, wie sauberes Trinkwasser, Müllentsorgung, hinreichend gute Nahrung und mehr Wohnraum[9]. Ähnliches erkennen wir, wenn wir die Coronavirus-Verbreitung und die Todesfälle heute anschauen – so z.B. in New York die der Afroamerikaner.
Ein gutes Leben unter guten Bedingungen gibt wohl den besten Schutz, die größtmögliche Sicherheit für ein gesundes langes Leben. Ein gutes Leben ist nicht so sehr das Ergebnis von Kontrolle aus Angst heraus, sondern vielmehr von Eigeninitiative, Kooperation und Unterstützung.

Verantwortung und Kultur

Eingangs habe ich die Geschichte von der helfen wollenden Pflegekraft im Seniorenheim meines Vaters erzählt, weil sie auch manche Angst von PolitikerInnen besser verständlich macht. Ihnen geht es oft nicht wirklich um die Sterbenden an der Corona-Grippe, sondern darum, Vorwürfe an ihrem (Nicht-)Handeln zu vermeiden. Wenn es wirklich um das Leben und die Gesundheit gefährdeter Menschen gehen würde, hätten sie schon vorher Maßnahmen ergriffen, damit Menschen in ärmeren Gebieten sowohl in Deutschlands Städten als auch in anderen Ländern nicht im Durchschnitt 10 Jahre früher sterben als in wohlhabenderen. Und damit nicht jedes Jahr etwa 74.000 Menschen an Alkoholkonsum unnötigerweise sterben. Und und und… Vielleicht hätten sie das Gesundheitssystem und uns auch auf die schon lange angekündigte und durchgespielte Pandemie[10] früher vorbereitet – dann hätten wir jetzt möglicherweise uns ganz einfach ohne Shutdown angemessen verhalten können.
Wenn wir mit diesem neuropsycholgischen Wissen und dieser reflektierten Erfahrung der Eigendynamik des Macht-Opfer-Dreiecks Verantwortung auch für andere übernehmen wollen, wie für PatientInnen oder die BürgerInnen eines ganzen Landes, bleiben wir im Kohärenzmodus der Gelassenheit und schauen mit grundsätzlichem und sehendem Vertrauen auf die Lebensziele, -werte und -inhalte, denen die Menschen sich annähern wollen. Und auch auf Bedrohungen, die sie abwenden wollen. Und dann besonders auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und andere Ressourcen, die wir für beides haben und brauchen.
Wir – jeder für sich und viele gemeinsam – gehen dann Fragen nach wie: Was braucht die Menschheit, uns selbst eingeschlossen, zum guten Leben? Kurzfristig – mittelfristig und langfristig? Was wünschen Sie sich für Ihr gutes Leben? Und das Ihrer Kinder und Enkel? Und was wollen und können Sie in Ihrem persönlichen Umfeld und in Deutschland dazu beitragen?
Wir haben grundsätzliches Vertrauen in die gesunde autonome Selbstregulation sowie die aufbauende gegenseitig förderliche Kooperation der Mitmenschen. Kontrolle ist nur erforderlich, wenn etwas schief läuft und kann dann durch die KooperationspartnerInnen geleistet werden. Das Ziel ist die weitestgehende Selbstverantwortung in Selbstmächtigkeit der Menschen. Von den verantwortlich Regierenden braucht es dazu eine Ermächtigung im Sinne von Empowerment und keine Entmächtigung durch Gesetze, Verbote und Kontrollen. Zum Glück gibt es dafür schon gute Praxisbeispiele wie Schweden in der Corona-Krise und andere in anderen gefährlichen Situationen[11].

Fazit

Die hier angeführten neuropsychologischen Erkenntnisse und der Blick auf Interaktionsmuster können uns helfen, unsere Motivationen und Entscheidungsprozesse zu reflektieren und zu verstehen und bewusster mitzugestalten, insbesondere durch angemessene und das Denken öffnende Fragen und vertrauensvoll kooperative auch öffentliche Kommunikationsprozesse. Durch diese Reflexion können wir negativen Folgen unserer gut gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten im Abwendungsmodus vorbeugen – wirklich ver-antwortlich und zum Wohl aller Menschen kooperieren[12].
Wer nicht in dieser Weise psychologisch reflektieren will oder kann und trotzdem im gesundheitlichen Tätigkeitsfeld aktiv werden möchte, kann einfach die ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns befolgen, wie sie im Oktober 2017 vom Weltärztebund in Genf verabschiedet wurden[13]:
An erster Stelle steht das Wohlbefinden der Menschen, dann kommen die Autonomie und die Würde des Menschen und an dritter Stelle steht der „höchste Respekt vor menschlichem Leben“. Ein solcher Respekt beinhaltet noch weit mehr oder auch etwas gänzlich anderes, als nur mit allen Mitteln Menschen am physischen Leben zu erhalten.
Diese Deklaration endet mit dem Gelöbnis: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“



[1] Im deutschsprachigen Raum wird dies neuro-motivationale System meist Vermeidungssystem genannt. Weil es aber nicht nur für das Vermeiden, also Fliehen einer Gefahr verantwortlich ist, sondern auch für das Bekämpfen, das aktive Abwenden, nenne ich „Abwendungssystem“: man kann sich von der Gefahr oder diese abwenden.
Vgl. Grawe K (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petzold TD (2015): Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10 (2015); Petzold TD (2013): Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana.  
[2] Petzold TD (Hrsg.)(2012): Vertrauensbuch – zur Salutogenese. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung
[3] RKI: Epidemiologisches Bulletin 17 | 2020 Online vorab: 15. April 2020
[4] Martin Buber: “Nicht ‘blindes‘ sondern sehendes, einsetzendes; nicht ‚ergebenes‘, vielmehr kühnes, ringendes Vertrauen scheint mir das höchste Gut zu sein…“
[7] Petzold TD (2017) Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus auf die Genesung - nicht auf die Erkrankung! In: Der Allgemeinarzt 11/2017 S.64-68.
https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Macht-Opfer-Dreieck.pdf (Manuskript 2020)
[8] Dieses Kommunikationsmuster ermöglicht ein psychologisches Verstehen auch paradoxer Phänomene, die im Zusammenhang mit Macht zu Bösem führen, wie R. Bregman sie beschreibt: „Im Grunde gut…“ (2020). In seinem Kern wurde es schon 1968 von dem Transaktionsanalytiker S. Karpman als Dramadreieck beschrieben.
[9] Keil U (2011): The invention of the swine-flu pandemic. Eur J Epidemiol (2011) 26:187–190 DOI 10.1007/s10654-011-9573-6
[11] R. Bregman beschreibt dazu viele Beispiele, wie z.B. die Behandlung von Kriminellen in Gefängnissen in Norwegen im Unterschied zu den USA u.v.a. In: Im Grunde gut… Rowohlt 2020.
[13] https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf