Abstract: Eine Reflexion neuropsychischer motivationaler
Einstellungen kann uns helfen, die möglicherweise paradoxen Folgen auch von gut
gemeinten ‚rettenden‘ Aktivitäten zu verstehen und vorzubeugen. Aus einer Reflexion
zwischenmenschlicher auch politischer Kommunikationsmuster ergeben sich
Lösungsansätze zur verantwortlichen Mitgestaltung einer vertrauensbasierten
kooperativen sowie lebensförderlichen Kultur. Nicht das Coronavirus verändert
die Welt, sondern die Antworten aller mitgestaltenden Menschen – aller Ver-antwortlichen.
Angst – vor Corona?
Persönlich habe ich keine Angst vor den Coronaviren – ich
bin ja auch erst 71 und fühle mich recht gesund. Aber ich kann verstehen, dass
Menschen Angst vor einer Infektion haben – besonders nachdem Bilder von
überfüllten Krankenhäusern und massenhaften Leichentransporten über die Medien
in alle Haushalte gekommen sind, verknüpft mit gigantischen Zahlen von
möglichen Millionen Toten, die sich keiner mehr wirklich vorstellen kann. Die
Vergleiche mit großen Kriegen schüren Angst. Ich kann verstehen, dass viele
Menschen Angst um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen haben. Allerdings haben
die meisten älteren Menschen, die ich getroffen habe, gesagt, dass sie keine
Angst davor haben – auch nicht vor dem Sterben, wenn es denn sein soll. Das
erinnert mich an meinen Vater, der kurz vor seinem Tode mit 92 Jahren mir
erzählte, dass er in dem angenehmen Seniorenheim, in dem er fast 20 Jahre
lebte, keinen kenne, der nicht sterben wolle. Dort wäre das Coronavirus
möglicherweise ein willkommener Gast gewesen, eine natürliche Sterbehilfe. Als
er dann nach einer Krebsoperation irgendwann aufhörte, etwas zu trinken, kam
die Krankenschwester und wollte ihm eine Infusion anlegen. Auf seinen
Widerspruch (er war zum Glück noch ganz klar im Kopf), meinte sie, wenn sie das
nicht täte, wäre das „unterlassene Hilfeleistung“. Sie hatte wohl Angst vor
einer Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung.
So reagieren Menschen mit sehr unterschiedlichen Ängsten,
wenn es ums Sterben geht. Bei vielen wird innerlich eine Schuldfrage
getriggert. Wer ist der böse Übeltäter? Ich hatte jetzt bei Corona am meisten
Angst, als „unsolidarisch“ kritisiert zu werden, wenn ich mal jemandem aus
Versehen näher als zwei Meter gekommen bin – gefühlt sowas wie ein potentieller
Attentäter in den Augen mancher Mitmenschen.
Wenn es für Menschen ums Überleben geht, wird ihr
neuropsychisches Abwendungs-/Vermeidungssystem[1]
über den Mandelkern (die Amygdala) angeschaltet – häufig mit einem Gefühl von
Angst und/oder Ohnmacht. Wenn Menschen in diesem Abwendungsmodus sind, wird
ihre ganze Aufmerksamkeit auf die potentielle Bedrohung gerichtet. Man will die
Gefahr möglichst genau erkennen, um sie zu bannen. Alles muss ganz schnell
gehen, wie z.B. bei einem Brand in der Küche, da muss sofort gelöscht werden
und man kann nicht erst die Temperatur messen. Das Denken wird zweckmäßig
eingeengt auf die Gefahr und ihre Abwendung und wird von dieser dominiert – es entsteht
ein eingeengter Geisteszustand (lat.: Angina mentalis). So waren die Medien
einige Wochen lang fast ausschließlich mit Corona befasst und das ganze Volk
redete über Corona wie über ein unfassbares mörderisches Schreckgespenst, dass
in tödlichen Wellen über uns kommt. Ich musste an Don Quijote und seinen Kampf
gegen die Windmühlenflügel denken. Eine kollektive Angina mentalis,
angstgetrieben im neuropsychischen Abwendungsmodus.
Mit diesem Abwendungsmodus ist das Stresssystem verknüpft. Das
Denken bewegt sich dann in einer Angstblase, die kaum eine andere Sicht zulässt
und ebenso wenig eine Reflexion dieses Zustands.
Sie können dazu mal einen psychologischen Selbstversuch
machen und der Schlagzeile vieler Zeitungen nach der Ansprache unserer
Bundeskanzlerin Frau Merkel vom 21.4. Folge leisten: "Wir dürfen uns keine
Sekunde in Sicherheit wiegen, …“. Versuchen Sie einmal, sich nicht „in
Sicherheit zu wiegen!“ – zehn Sekunden lang … dreißig Sekunden lang… Wie fühlen
Sie sich? Was denken Sie, wenn Sie sich nicht sicher fühlen dürfen?
Vertrauen in die Menschen
Unter unserer Angst muss es allerdings noch etwas
Grundlegendes geben, damit wir überhaupt handeln können, ja überhaupt Angst
verspüren können. Dieses Grundlegende sehe ich im Urvertrauen ins Leben oder
auch im Lebenswillen, der damit eng verbunden ist. Wenn da nicht etwas Grundlegenderes
als Angst wäre, würde uns die Angst schnell zerfressen und am Leben hindern.
Dann hätte es Don Quijote gar nicht auf sein Pferd geschafft, die
PolitikerInnen nicht an die Regierung und die WissenschaftlerInnen nicht in
ihren Beruf. So dürfen wir uns auch in der Angst und angesichts von Bedrohungen
immer wieder auf dieses zugrundeliegende Urvertrauen ins Leben besinnen[2].
In der Not zeigen viele Menschen diese ihre gute Seite, die
hilfreich und solidarisch ist. Das gibt uns weitere gute Gründe, in Menschen zu
vertrauen.
So haben die Deutschen schon sehr früh bei der Ankündigung
der ersten Maßnahmen, dem Großversammlungsverbot am 9.3., begonnen, sich
vernünftig und kooperativ zu verhalten, wie am Verlauf der
Ansteckungshäufigkeit, berechnet im R-Wert deutlich zu sehen ist. Die R-Kurve[3]
änderte ihre ansteigende Richtung schon ab dem 10.3. und fällt seit dem 12.3. ab.
Dieser Effekt ist noch nicht auf das Nicht-Stattfinden großer Veranstaltungen
zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Ankündigung dieser Maßnahme, die den
BürgerInnen die Ernsthaftigkeit der Bedrohung deutlich gemacht hat,
möglicherweise auch in Kombination mit den Berichten aus Norditalien. Was ich
damit sagen will: Die Zahlen zeigen weniger einen Erfolg der Maßnahmen selbst,
als vielmehr das kooperative oder auch vernünftige Verhalten der überwältigenden
Mehrzahl der BürgerInnen, wenn sie entsprechend informiert sind. In diesen
Zahlen finden wir einen Beweis für die Vertrauenswürdigkeit der BürgerInnen.
Das Vertrauen in die Menschen wäre zu diesem Zeitpunkt also schon kein
geschenktes oder gar blindes Vertrauen mehr gewesen, sondern bereits statistisch
begründet ein sehendes Vertrauen[4].
Ist Angst neuropsychologisch mit dem motivationalen
Abwendungs-/Stresssystem gekoppelt, so ist Vertrauen mit dem motivationalen
Annäherungs- und dem Kohärenzsystem[5]
verknüpft. Diese Systeme sorgen dafür, dass wir uns lustvollen Annäherungszielen
bzw. übergeordneten stimmigen Kohärenzzielen zuwenden und annähern.
Urvertrauen nenne ich das, was dem Leben immanent ist, das
Vertrauen mit dem ein Neugeborenes den ersten Atemzug nimmt und die angebotene
Milch trinkt. Durch negative Bindungserfahrungen wie auch Traumata in der
frühen Kindheit kann dieses Urvertrauen geschmälert werden. Als Potential
bleibt es weitgehend erhalten. Urvertrauen wäre somit eine grundlegende
kooperative Einstellung des Menschen, die ich neuropsychologisch dem übergeordneten
motivationalen Kohärenzsystem zuordne. Wenn wir im Kohärenzmodus sind und so
mit unserem Urvertrauen verbunden, können wir gelassen sein. Wir können
uns mit unserem Urvertrauen verbinden mit dem Satz: Ich atme also vertraue
ich.
Dann können wir Gefahren kritisch angucken, auch unsere
Angst spüren, wir müssen aber nicht gleich agieren, wenn nicht wirklich akute
Lebensgefahr ist. In diesem vertrauensvollen Kohärenzmodus können wir weit
denken und das ganze Leben in Betracht nehmen, nicht nur das Überleben. Wir
können schauen, was uns wirklich bedeutsam ist, wie wir gut leben wollen und können
– mit unseren nächsten Mitmenschen, in Deutschland, in Europa und in der ganzen
Welt. Wenn wir unser Denken so weit – auch global – geöffnet haben, können wir
wieder das Problem mit den Coronaviren angucken. In dieser kohärenzbewussten
Reflexion können wir unser Abwendungssystem im Zaum halten, abwägen und uns
nüchtern relativierend fragen, wie wir gut leben und was wir tun wollen: mit,
gegen und ohne Coronaviren.
Mein Vertrauen in die Regierung und die Kooperation mit ihr
beruhte unter anderem darauf, dass ich wie selbstverständlich von einer
gemeinsamen Intentionalität ausgegangen war: dass die Regierenden die
Ausbreitung des Virus stoppen wollen, damit wir und möglichst viele andere
Menschen auch danach möglichst gut leben können. Dafür war ich wie viele andere
bereit, Opfer zu bringen – auch angesichts der positiven Nebenwirkungen auf die
Atmosphäre. Inzwischen sehe ich diese gemeinsame Intentionalität für eine Kooperation
so nicht mehr gegeben, da die Regierenden und ihre ausgewählten ExpertInnen die
verständlichen kurzfristigen Abwendungsziele zur Langzeitperspektive erklären
wollen. Das erfordert ein gänzlich anderes Abwägen.
Wenn ich in eine Kooperation vertraue, gehe ich davon aus,
dass der Kooperationspartner auch mir vertraut. Weiter helfen wir uns
gegenseitig, wenn einer mal seine Rolle nicht mehr alleine schaffen kann[6].
Dazu gehört, dass wir unser Wissen teilen und auch, dass wir gemeinsam die
Schritte, Erfahrungen und Erfolge oder auch Misserfolge und Fehler besprechen
und reflektieren. Und ggf. gemeinsam korrigieren. Darauf haben ich und, soweit
ich es überblicke, die große Mehrheit der BürgerInnen vier Wochen lang gehofft.
Wir haben voller Vertrauen in die Regierung und die ExpertInnen ziemlich brav
die verordneten Maßnahmen befolgt. Und das, obwohl wir nicht in die
Diskussionen um die Maßnahmen und den Ausstieg einbezogen wurden, wie sich das
für eine partnerschaftliche Kooperation gehört, nicht einmal wurde die
Entscheidungsfindung wirklich transparent gemacht. Das hat bei mir und vielen
anderen an dem ursprünglichen Vertrauen genagt. Dann habe ich hinterfragt, ob
wir wirklich eine gemeinsame Intentionalität haben.
Macht, Opfer und ein Schattenmuster gut gemeinter Rettungsaktivitäten
Sie haben jetzt von zwei unterschiedlichen neuropsychischen
Einstellungen gelesen: zuerst vom Gefahren-Abwendungsmodus, dem Überlebens- und
Kriegsmodus, und dann vom freundlich vertrauenden und kooperativen Annäherungs-
und Kohärenzmodus. Von einigen Indianerstämmen habe ich gelesen, dass sie zwei
Häuptlinge hatten: einen für Friedenszeiten und einen für den Krieg. Offenbar hatten
sie gemerkt, dass es zwei sehr unterschiedliche Denk- und Führungsstile
braucht.
Wir haben zwar nicht die Regierung ausgewechselt (es sei
denn man sieht das RKI und Herrn Drosten jetzt als Regierung), aber ihr
Führungsstil hat sich deutlich geändert. Plötzlich wird zum „Krieg gegen Viren“
geblasen. Ich brauche die starken Angstbilder vom Sturm auf die Kliniken und
Krematorien, die tödlichen Wellen sowie die entsprechenden Notstandsmaßnahmen
hier nicht weiter auszuführen. Die sind hinreichend bekannt. Hier möchte ich
die damit verknüpften Interaktions- und Kommunikationsmuster reflektieren.
Die BürgerInnen schließen sich in solchen bedrohlichen
Situationen hinter ihrer Regierung zusammen und schenken ihr einen großen
Vertrauensvorschuss, wie uns die ganzen Meinungsumfragen nicht nur aus den USA,
sondern auch hier zeigen. Wenn man sich allein machtlos / ohnmächtig fühlt,
glaubt man, dass der Kampf gegen den bösen Feind nur gemeinsam gewonnen werden
kann. So spielen die beiden neuro-motivationalen Systeme im Krieg unter der
Leitung des Abwendungssystems um des Überlebenswillens zusammen. Solch ein
Kampf kostet wie jeder Krieg Opfer. Von jedem werden Opfer verlangt – für den
guten Zweck „Leben retten“ und „Gesundheitssystem vor Kollaps bewahren“. Wer
das Opfer nicht bringen will, wird zum Opfer gemacht: Geldstrafe, Gefängnis
oder Psychiatrie (wie in Sachsen geplant war). Diese Opfer bzw. alle, die sich
als potentielle Opfer fühlen, fällen über die Regierung ein negatives Urteil
und machen ihr Vorwürfe als Übeltäter. Diese fühlt sich dann wieder als Opfer
einer Hexenjagd, Schmutzkampagne oder Verschwörungstheorie. Aus diesem Gefühl
als Opfer heraus und ausgestattet mit der Staatsmacht verschärft sie ihre
Maßnahmen und Drohungen und löscht unerwünschte Meinungen.
So entfaltet sich ein Interaktionsmuster von: Opfer retten
wollen – Übeltäter bekämpfen und damit wieder neue Opfer produzieren – die dann
ihrerseits wieder die ehemaligen Retter als Übeltäter bekämpfen – usw. usw.
Dieses Interaktionsmuster erscheint als das Schattenmuster
gut gemeinter Rettungsaktivitäten im angstgetriebenen Stressmodus. Dieses
Macht-Opfer-Dreieck[7]
ist ein Kommunikationsmuster im Abwendungsmodus mit einer hohen Eigendynamik,
die immer neue Opfer produziert, weil keiner gerne Opfer sein möchte
(freiwillig Opfer bringen, ist etwas anderes)[8].
Im Kleinen kennen wir alle dieses Muster in zwischenmenschlichen Beziehungen,
und in großen Kollektiven sehen wir es wie zwischen Israel und Palästina und in
allen anderen Kriegen – und jetzt auch im „Krieg gegen die Viren“. Zunächst
haben die meisten freiwillig Opfer gebracht. Jetzt werden aber zunehmend die
zwischenmenschlichen und familiären Beziehungen vieler Menschen sowie die
ökonomischen Existenzen von KleinunternehmerInnen zu neuen Opfern, auch wenn
sie nicht mit dem Virus verbandelt sind. Opfer dieses menschlichen
Schattenmusters unreflektierter Kommunikation und Kooperation im Abwendungsmodus.
Es wurde neben dem Abwendungsziel des Sterbens noch ein
weiteres genannt: „Ein Kollaps des Gesundheitssystems“ soll vermieden werden.
Von einem solchen Ziel und Motivation gesundheitsorientierten Handelns habe ich
in über 40-jähriger ärztlicher Tätigkeit noch nie etwas gehört. Das ist Aufgabe
der Politiker und mit vorherschauenden Investitionen und Strukturmaßnahmen zu
erreichen, aber nicht mit dem Kollaps der Gesamtwirtschaft und des
gesellschaftlichen menschlichen Lebens. Dahinter steckt wohl die Angst des
zuständigen Gesundheitsministers, dass seine profitorientierte Sparpolitik in
Kritik gerät, durch die eine (fürsorgliche) Vorsorge für den Fall des spätestens
seit 2013 erwarteten Eintretens einer Pandemie vernachlässigt wurde.
Eine weitere Gefahr der Angstmacherei besteht darin, dass
wir, wenn wirklich eine gefährliche Pandemie kommt, der Regierung nicht mehr
glauben, weil wir jetzt nach der Vogel- und Schweinegrippe auch noch die
Corona-Pandemie eher als Windmühlenflügel des Don Quijote denn als reale überall
lauernde tödliche Gefahr erlebt haben. Von dem häufig angekündigten Sturm auf
die Krankenhäuser und Intensivstationen bleibt hier in Deutschland eine
gähnende Leere, die zu einer so nicht gekannten Kurzarbeit führt (Stand 23.4.:
150.000 Krankenhausbetten und gut 20.000 Intensivbetten sind leer). Menschen
haben heute Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Dann wird unser anfänglich hohes
und relativ blindes Vertrauen in die Regierenden umschlagen in ein sehendes:
Wir sehen dann die Regierung als einen Don Quijote. Mehrere ExpertInnen, die
die Schweinegrippe und andere Epidemien fachlich begleitet hatten, hatten
deshalb jetzt schon große Schwierigkeiten, den Horrorszenarien von VirologInnen
und Regierung zu glauben, wie z.B. W. Wodarg.
Um die fatalen Dynamiken dieses Kommunikationsmusters und
ihre möglichen grausamen Folgen (zerbrochene Existenzen, mehr Armut und
möglicherweise Millionen Hungerstote als Folge der Verschärfung der
Finanzkrise) zu erkennen und dafür Verantwortung zu übernehmen, muss man aus
der Angstblase der Angina mentalis aussteigen. Dann erst kann man die unterschiedlichen
Gefahren angemessen reflektieren, sich auf das Urvertrauen ins Leben besinnen
und weitsichtig vorbeugend handeln. Dann können wir eine umfassende Perspektive
erreichen, die die Bedrohung in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, und
auch unsere menschlichen Fähigkeiten, das Leben (einschließlich der Gefahren)
gut mitzugestalten, in Betracht zieht.
Hier im Zusammenhang der Corona-Krise möchte ich daran
erinnern, dass die positiven Entwicklungen in Bezug auf schwere
Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose nicht wesentlich durch die
Medikamente und Impfungen zustande kamen, sondern schon vorher durch
Veränderungen im sozialen Milieu, wie sauberes Trinkwasser, Müllentsorgung,
hinreichend gute Nahrung und mehr Wohnraum[9].
Ähnliches erkennen wir, wenn wir die Coronavirus-Verbreitung und die Todesfälle
heute anschauen – so z.B. in New York die der Afroamerikaner.
Ein gutes Leben unter guten Bedingungen gibt wohl den besten
Schutz, die größtmögliche Sicherheit für ein gesundes langes Leben. Ein gutes
Leben ist nicht so sehr das Ergebnis von Kontrolle aus Angst heraus, sondern vielmehr
von Eigeninitiative, Kooperation und Unterstützung.
Verantwortung und Kultur
Eingangs habe ich die Geschichte von der helfen wollenden
Pflegekraft im Seniorenheim meines Vaters erzählt, weil sie auch manche Angst
von PolitikerInnen besser verständlich macht. Ihnen geht es oft nicht wirklich
um die Sterbenden an der Corona-Grippe, sondern darum, Vorwürfe an ihrem (Nicht-)Handeln
zu vermeiden. Wenn es wirklich um das Leben und die Gesundheit gefährdeter
Menschen gehen würde, hätten sie schon vorher Maßnahmen ergriffen, damit
Menschen in ärmeren Gebieten sowohl in Deutschlands Städten als auch in anderen
Ländern nicht im Durchschnitt 10 Jahre früher sterben als in wohlhabenderen. Und
damit nicht jedes Jahr etwa 74.000 Menschen an Alkoholkonsum unnötigerweise
sterben. Und und und… Vielleicht hätten sie das Gesundheitssystem und uns auch
auf die schon lange angekündigte und durchgespielte Pandemie[10]
früher vorbereitet – dann hätten wir jetzt möglicherweise uns ganz einfach ohne
Shutdown angemessen verhalten können.
Wenn wir mit diesem neuropsycholgischen Wissen und dieser reflektierten
Erfahrung der Eigendynamik des Macht-Opfer-Dreiecks Verantwortung auch für
andere übernehmen wollen, wie für PatientInnen oder die BürgerInnen eines
ganzen Landes, bleiben wir im Kohärenzmodus der Gelassenheit und schauen mit
grundsätzlichem und sehendem Vertrauen auf die Lebensziele, -werte und
-inhalte, denen die Menschen sich annähern wollen. Und auch auf Bedrohungen,
die sie abwenden wollen. Und dann besonders auf die unterschiedlichen
Fähigkeiten und andere Ressourcen, die wir für beides haben und brauchen.
Wir – jeder für sich und viele gemeinsam – gehen dann Fragen
nach wie: Was braucht die Menschheit, uns selbst eingeschlossen, zum guten Leben?
Kurzfristig – mittelfristig und langfristig? Was wünschen Sie sich für Ihr
gutes Leben? Und das Ihrer Kinder und Enkel? Und was wollen und können Sie in
Ihrem persönlichen Umfeld und in Deutschland dazu beitragen?
Wir haben grundsätzliches Vertrauen in die gesunde autonome
Selbstregulation sowie die aufbauende gegenseitig förderliche Kooperation der
Mitmenschen. Kontrolle ist nur erforderlich, wenn etwas schief läuft und kann
dann durch die KooperationspartnerInnen geleistet werden. Das Ziel ist die
weitestgehende Selbstverantwortung in Selbstmächtigkeit der Menschen. Von den
verantwortlich Regierenden braucht es dazu eine Ermächtigung im Sinne von
Empowerment und keine Entmächtigung durch Gesetze, Verbote und Kontrollen. Zum
Glück gibt es dafür schon gute Praxisbeispiele wie Schweden in der Corona-Krise
und andere in anderen gefährlichen Situationen[11].
Fazit
Die hier angeführten neuropsychologischen Erkenntnisse und
der Blick auf Interaktionsmuster können uns helfen, unsere Motivationen und
Entscheidungsprozesse zu reflektieren und zu verstehen und bewusster mitzugestalten,
insbesondere durch angemessene und das Denken öffnende Fragen und
vertrauensvoll kooperative auch öffentliche Kommunikationsprozesse. Durch diese
Reflexion können wir negativen Folgen unserer gut gemeinten ‚rettenden‘
Aktivitäten im Abwendungsmodus vorbeugen – wirklich ver-antwortlich und zum
Wohl aller Menschen kooperieren[12].
Wer nicht in dieser Weise psychologisch reflektieren will
oder kann und trotzdem im gesundheitlichen Tätigkeitsfeld aktiv werden möchte,
kann einfach die ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns befolgen, wie sie im
Oktober 2017 vom Weltärztebund in Genf verabschiedet wurden[13]:
An erster Stelle steht das Wohlbefinden der Menschen, dann
kommen die Autonomie und die Würde des Menschen und an dritter Stelle steht der
„höchste Respekt vor menschlichem Leben“. Ein solcher Respekt beinhaltet noch
weit mehr oder auch etwas gänzlich anderes, als nur mit allen Mitteln Menschen
am physischen Leben zu erhalten.
Diese Deklaration endet mit dem Gelöbnis: „Ich werde, selbst
unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von
Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“
[1]
Im deutschsprachigen Raum wird dies neuro-motivationale System meist
Vermeidungssystem genannt. Weil es aber nicht nur für das Vermeiden, also
Fliehen einer Gefahr verantwortlich ist, sondern auch für das Bekämpfen, das
aktive Abwenden, nenne ich „Abwendungssystem“: man kann sich von der Gefahr
oder diese abwenden.
Vgl. Grawe K (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petzold TD (2015): Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10 (2015); Petzold TD (2013): Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana.
Vgl. Grawe K (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Petzold TD (2015): Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die gemeinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z.Allg.Med.10: 6-10 (2015); Petzold TD (2013): Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutogenese. München: Irisiana.
[2]
Petzold TD (Hrsg.)(2012): Vertrauensbuch – zur Salutogenese. Bad Gandersheim:
Verlag Gesunde Entwicklung
[3]
RKI: Epidemiologisches Bulletin 17 | 2020 Online vorab: 15. April 2020
[4]
Martin Buber: “Nicht ‘blindes‘ sondern sehendes, einsetzendes; nicht
‚ergebenes‘, vielmehr kühnes, ringendes Vertrauen scheint mir das höchste Gut
zu sein…“
[7]
Petzold TD (2017) Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Salutogenese – Fokus
auf die Genesung - nicht auf die Erkrankung! In: Der Allgemeinarzt 11/2017
S.64-68.
https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Macht-Opfer-Dreieck.pdf (Manuskript 2020)
https://www.gesunde-entwicklung.de/tl_files/user_upload/docs/Petzold-Macht-Opfer-Dreieck.pdf (Manuskript 2020)
[8]
Dieses Kommunikationsmuster ermöglicht ein psychologisches Verstehen auch
paradoxer Phänomene, die im Zusammenhang mit Macht zu Bösem führen, wie R.
Bregman sie beschreibt: „Im Grunde gut…“ (2020). In seinem Kern wurde es schon
1968 von dem Transaktionsanalytiker S. Karpman als Dramadreieck beschrieben.
[9] Keil U (2011): The invention
of the swine-flu pandemic. Eur J Epidemiol (2011) 26:187–190 DOI
10.1007/s10654-011-9573-6
[11]
R. Bregman beschreibt dazu viele Beispiele, wie z.B. die Behandlung von
Kriminellen in Gefängnissen in Norwegen im Unterschied zu den USA u.v.a. In: Im
Grunde gut… Rowohlt 2020.
[13]
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Genf_DE_2017.pdf